My Passion

81 10 8
                                    

Ich seufze. Heute ist mal wieder ein Tag, an dem mir rein gar nichts brauchbares einfällt. Vermutlich liegt es daran, dass es nun schon fast Mitternacht ist und ich noch immer an meinem Schreibtisch sitze und an meiner Komposition arbeite.
Bewaffnet mit meiner Feder, dem kleinen Tintenfässchen, einem Stück Pergamentpapier und einem altertümlichen Kerzenständer, der auf meinem Schreibtisch steht und dessen Kerzen angenehm hell flackern und ein Gefühl von Gemütlichkeit und Geborgenheit ausstrahlen, sitze ich auf meinem Holzstuhl und grüble und denke nach. Die Luft ist erfüllt von dem Geruch nach altem Holz und jedesmal, wenn ich meine Füße auf dem alten Dielenboden abstelle, knarzen und ächzen die Dielen unter mir. Das alles ist mir schon so vertraut...still und heimlich in meinem kleinen Kämmerchen sitzen, das Papier vor mir auf meinem Schreibtisch, die Schreibutensilien daneben und die ewige Leere in meinem Kopf.
Plötzlich bemerke ich eine flüchtige Bewegung aus meinen Augenwinkeln und drehe mich erschrocken um. Die Vorstellung, dass mein Vater in der Tür stehen und mit vor Wut funkelnden, düsteren und verachtenden Augen auf mich herabsehen könnte, jagt mir ungeheure Angst ein. Nicht auszudenken, was er mit ihr anstellen würde, wenn er erfahren würde, was ich des Nachts so trieb.
"Komponieren und erfinden ist eine Arbeit, die nur Männer ausüben!", pflegt er zu sagen, "Du, Cassandra, bist ein Mädchen und dir ist es vorbestimmt zu tun, was man dir sagt; zu kochen, zu waschen, Socken zu stopfen und auf deine Geschwister aufzupassen!"
Mehr als einmal hat er mir das schon eingebläut, doch trotzdem wage ich mich nahezu jede Nacht hierher in die versteckte Kammer hinter dem riesigen Wandteppich, der in meinem Zimmer hängt und die winzige Tür des versteckten Raumes hinter der Wand gekonnt verdeckt.
Erleichtert stelle ich jedoch fest, dass die Tür zu und mein kleines Geheimversteck unentdeckt geblieben ist. Denn es ist nicht mein Vater, den ich aus den Augenwinkeln bemerkt habe, sondern nur mein Kater Geronimo, der durch ein kleines Loch in der Wand zu mir ins Kämmerchen geschlüpft ist. Seine schemenhaften gelben Augen blitzen hell im Schein der Kerzen und spiegeln das schwache Licht wider. Mir läuft ein Schauer über den Rücken, denn eine pechschwarze Katze im flackernden Kerzenschein hat schon etwas Unheimliches.
Der Kater mustert mich kurz, streicht dann verschmust um meine Beine und maunzt fordernd. Ein Grinsen kommt über meine Lippen, ich hebe ihn hoch und setze ihn auf meinen kleinen Schreibtisch vor mir und dem Stück Pergament ab.
"Hallo alter Freund", flüstere ich leise und streichle dem dunklen Kater dann über den dicken Pelz, "Schön, dass du mich auch mal besuchen kommst. Erzähl es aber bitte keinem weiter, in Ordnung?"
Als hätte Geronimo mich verstanden, beginnt er zu schnurren und dreht sich auf den Rücken. Schmunzelnd kraule ich seinen schneeweißen Bauch und merke, wie mich die Müdigkeit allmählich, langsam und schleichend übermannt und mich das sanfte, monotone Schnurren des alten Katers beinahe zum Einschlafen bringt.
Kurz davor schrecke ich jedoch hoch, denn eine kleine Idee hat wie ein Getreidekorn in meinen Gedanken zu sprießen begonnen und scheint nun allmählich Gestalt anzunehmen. Natürlich!
Denke ich und sehe auf den Kater, welcher meine Streicheleinheiten wohlig schnurrend genießt.
Eine einfache, immer wiederkehrende Melodie am Beginn! Etwas, das sich in die Gedanken der Leute einbrennt und sie ausfüllt. Etwas monotones und dennoch ausdrucksstarkes! Das ist es! Das ist der Auftakt zu einem Meisterwerk!
Triumphierend grinsend lasse ich von Geronimo ab und greife begeistert von meiner Idee nach der Feder und tauche sie in die nachtblaue Tinte. Wie von selbst gleitet sie über das Pergamentpapier und zaubert Noten und Notizen in die dafür vorgesehenen Zeilen. Zufrieden und auch nachdenklich betrachte ich das Geschriebene und frage mich, welche Instrumentenbesetzung dafür wohl die geeignetste wäre.
Geigen! Kommt es mir sofort in den Sinn und zufrieden stelle ich fest, dass das tatsächlich gut klingen könnte. Ich schließe die Augen und stelle mir eine einzelne wohlklingende, trotzdem schnell gespielte Geige vor, die den Anfang des Musikstücks bilden soll. Eilig passe ich die Noten an, überarbeite sie, bis ich zufrieden damit bin. Das Ergebnis kann sich sehen lassen! Die ersten Zeilen meines Lebenswerks sind schwarz auf weiß auf dem Papier verewigt.
Müde lehne ich mich auf dem Holzstuhl zurück, betrachte den inzwischen tief und fest schlafenden Kater Geronimo und mein Werk. Ich beschließe, dass das genug Arbeit ist für diese Nacht, denn ich weiß, dass ich morgen wichtige Aufgaben zu erledigen habe und zumindest halbwegs ausgeruht in den neuen Tag starten sollte. Also stehe ich auf, nehme vorsichtig meinen Kerzenständer, passe gut auf, dass das heiße Wachs nicht auf meine Finger tropft, öffne die kleine Tür und schiebe wachsam den Wandteppich beiseite, der mein Zimmer von der geheimen Kammer trennt. Meinen schlafenden Kater lasse ich im Kämmerchen, denn ich weiß, dass er durch das kleine Loch in der Wand jederzeit in mein Zimmer und von dort aus in jeden Raum des Anwesens gelangen kann, da es bei uns so gut wie kein einziges abgesperrtes Zimmer gibt. Möglichst leise stelle ich den Kerzenhalter auf dem kleinen hölzernen Nachttischchen, welches neben meinem Bett steht, ab. Erschöpft lege ich mich ins weiche Bett und schließe die Augen, gehe in Gedanken nochmal die niedergeschriebene Melodie, den Auftakt meines Meisterwerks durch. Ich bin mir ganz sicher, dass es etwas besonderes wird, dass es erfolgreich wird. Mit diesen positiven Gedanken drifte ich langsam ab in einen erholsamen, traumlosen Schlaf.

My Passion (Eine Kurzgeschichte)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt