Durch die Balkontür hindurch konnte ich erkennen, dass es draußen schneite. Fasziniert, von den abermillionen weißen Flocken, öffnete ich das kalte Glas, das mich von den Eiskristallen fern hielt. Wegen der Kälte bildete sich eine Gänsehaut auf meinen Armen und Beinen, auch das leichte Zittern nahm ich in kauf, nur damit ich die kleinen herabfallenden Wunder der Natur beobachten konnte. Während ich ihnen beim Schmelzen zusah, schweiften meine Gedanken zu IHM ab. Was er da oben wohl gerade tut? Mit Tränen in den Augen schaute ich in den Himmel. „Es tut mir Leid...“, flüsterte ich leise vor mich hin. Es war meine Schuld, dass er nicht mehr hier sein kann. Ganz allein Meine. Langsam rann mir eine Träne nach der Anderen die Wangen hinunter. Stumm ertrug ich den Schmerz, der durch mein Herz jagte.
Mir kam ein Gedanke. Ein Gedanke, der mich für ein paar Momente von meiner Trauer ablenkte. „Wenn er nicht leben darf, wieso ich?“, es hörte sich an wie aus diesen Emo-Romanen, wo am Ende jeder Selbstmord begeht, aber allmählich verstand ich diese Personen sehr gut. Es wäre doch nur gerecht, oder? Im letzten Winkel meines Gehirns hörte ich seine Stimme etwas sagen, was er vor sehr langer Zeit einmal zu mir gesagt hatte: „Wenn du gehst, gehe ich mit!“, er sagte es, als wir mit Anderen in den Europapark gegangen waren und ich ihm gebeichtet habe, dass ich Angst vor Achterbahnen habe. Während der Fahrt hielt er dann die ganze Zeit über meine Hand. Das war auch der Tag, an dem ich mich in ihn verliebt hatte. Er war meine erste große Liebe... Er ist meine erste große Liebe! Ohne es wirklich realisiert zu haben, war ich nun in der Küche angekommen und meine rechte Hand ruhte auf dem Griff der Besteckschublade. Entschlossen öffnete ich diese und nahm das japanische Gemüsemesser, dass mein Vater meiner Mutter letztes Jahr auf Ostern geschenkt hatte, heraus. Vorsichtig wog ich die Stahlklinge hin und her. Als mich aber der altbekannte Schmerz wieder wachrüttelte, ließ ich das teure Werkzeug auf den Herd sinken und schnappte mir dafür ein Blatt Papier und einen rosafarbenen Gel-Stift. Meine Familie soll sich nicht die selben Vorwürfe machen, wie ich, deshalb schrieb ich einen Abschiedsbrief.
Hey Ihr,
wenn ihr das lest, bin ich wahrscheinlich schon tot. Der einzige Grund, warum ich das hier schreibe, ist der, dass ich euch alle zu sehr liebe, um euch auch so ein schlechtes Gewissen zu mach, wie ich eines hatte. Es liegt nicht an euch, dass ich nicht mehr hier bin, sondern daran, dass ich eben diese Gefühle nicht mehr aushalten konnte. Es war meine Schuld, dass er jetzt Tod ist. Ohne ihn schmerzt es, denn ich habe ihn geliebt. Es klingt merkwürdig, auch weil ich es keiner Menschenseele erzählt hatte, aber mein Herz hatte nur für seines geschlagen. Da sein Herz nun aber nicht mehr schlägt, hat meines auch keinen Grund mehr zu schlagen. Also gebt nicht euch die Schuld. Irgendwann werdet ihr mich vergessen, aber ich würde ihn niemals vergessen! Danke, dass ihr das hier gelesen habt.
In Liebe
Josephine
Ps. Machs besser wie ich Ennilein ;)
Das PS am Schluss galt meinem Bruder, Jens. Wie ich auf Ennilein gekommen bin, weiß ich nicht. In letzter Zeit hatte er sehr viele Probleme mit unseren Eltern, dem Geld, seinen Freunden, seiner Freundin und er wurde Kettenraucher, was die ganze Sache nicht verbesserte. Sorgfältig gefaltet legte ich den Abschiedsbrief auf den Esstisch, damit man ihn beim Reinkommen direkt sah. Dann nahm ich wieder den kalten stählernen Griff in die Hand und ging ins Bad. Ich wollte nicht unnötig viel Arbeit zum Aufräumen hinterlassen, deshalb legte ich mich vor die Badewanne auf die Fliesen. „Gleich bin ich bei dir!“,hauchte ich und ignorierte die Stimme in meinem Kopf, welche mir sagte, dass es eine schlechte Idee sei. Ganz deutlich erkannte ich sein Gesicht vor mir, als würde er noch leben und direkt vor mir stehen. Als würde Wind wehen, bewegten sich seine kurzen dunklen Haare, seine fast nachtschwarzen Augen leuchteten besorgt. Er trug sogar seine geliebte Ironman Cap. Mein Blick galt wieder seinen Augen, welche fast schon das Wort Verzweiflung hinausschrien. Warum war er so verzweifelt? Seine Lippen bewegten sich, doch alles blieb still. Wenn er eine Stimme hätte, würde er wahrscheinlich brüllen. Von seinen Lippen konnte ich nicht lesen, da er sie zu hektisch bewegte. Das Messer, dessen Klinge schon an meiner Brust ruhte, legte ich auf den Rand der Badewanne ab. In diesem Augenblick beruhigte Er sich auch wieder. Wollte er etwa, dass ich weiter lebte? Ach was, das ist alles nur Einbildung, er war nur Einbildung! Es war bestimmt nur ein Trick meines kranken Gehirns. Es war unmöglich, dass ich ihn sehen konnte. Er war tot. Durch meine Schuld. Genauso wie ich.
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Into Darkness
Short StoryOS-short story-"Gleich bin ich bei dir!"; hauchte ich und ignorierte die penetrante Stimme in meinem Kopf, die versuchte mich aufzuhalten. Ganz deutlich konnte ich ihn vor mir ausmachen, als ob er noch leben würde, als ob er direkt neber mir stehen...