1. Kapitel

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Ich saß auf der Fensterbank in meinem Zimmer. Draußen fiel der Regen in dicken Tropfen zu Boden. Ein Blick auf meine Armbanduhr verriet mir, dass ich schon genau 13 Minuten auf dem gleichen Platz saß. Ein freudiger Quicker entfuhr mir, als ich meine Aufmerksamkeit wieder der Straße schenkte und dort eine unscheinbare Gestalt wahrnahm. Sie ging wie immer gebückt und humpelte, die Kriegsverletzung machte ihr jedes mal zu schaffen. Der dichte Schleier des Regens ließ jedoch keinen genaueren Blick auf die Person zu. Ich wandte mich von der Fensterscheibe ab und blickte mich im Zimmer um, alles war an seinem Platz, so wie ich es mochte. Zufrieden sprang ich von der Fensterbank, die Kissen, auf denen ich gesessen hatte, fielen zu Boden, doch ich ignorierte es, denn jetzt war Perfektion angesagt. Mit schnellen Schritten eilte ich aus meinem Zimmer, direkt die Treppe hinunter, die letzte Stufe übersprang ich, da sie knarrte und das mochte ich nicht. Vorfreudig stellte ich mich vor die große Holztür, meine Beine wippten aufgeregt auf und ab. Nur noch wenige Sekunden sollte es dauern, doch es zog sich unglaublich in die Länge, wie zäher Honig, der zu lange im Regal stand. Als dann endlich das tock tock des Stockes auf den Stufen vor dem Haus zu hören war und kurz darauf das Klingeln der Haustür ertönte, riß ich voller Vorfreude, Aufregung und Neugier die Tür auf. Ein breites Lächeln zierte meine Lippen, meine Augen strahlten dem älteren Mann entgegen und mein ganzer Körper war angespannt. "Großvater!", rief ich dann plötzlich laut und fiel ihm um den Hals, dieser lachte herzhaft und ein Arm hielt mich fest. "Lass mich erstmal reinkommen", bat er, das Lachen hallte in seiner Stimme immer noch nach. Schnell ließ ich von ihm ab und stellte mich brav neben das Geländer der Treppe. Mühsam zwängte sich der Mann aus seiner vom Regen durchnässten Jacke und hängte diesen an den freien Haken an der Garderobe, der klatschnasse Hut obendrauf. "Großvater, soll ich dir bei den Schuhen helfen, dann musst du dich nicht bücken?", fragte ich vorsichtig, doch ich erhielt wie jedes mal nur ein klares Nein!, also wartete ich geduldig bis sich mein Großvater auf die Treppe setzte, den Stock neben sich legte und langsam die Schnürsenkel seiner in die Jahre gekommenen Schuhe aufmachte. Mit einem schweren Seufzer stemmte sich der Mann wieder hoch, streifte mit den Füßen die Schuhe ab und schlüpfte in seine Pantoffeln, die an ihrem Platz neben der Treppe standen. Mühsam bückte er sich, hob die Schuhe auf und stellte sie an den Platz, wo noch vor ein paar Sekunden seine Pantoffel standen. Den Stock wieder in seiner Hand, sah er mich genau an. "Jedes mal, wenn ich dich wiedersehe, bist du hübscher und deiner Großmutter ähnlicher", seine Stimme war voller Stolz und Bewunderung, auch wenn er es jedes mal zu mir sagte, mir wurde immer wieder warm ums Herz. Meine Großmutter war alles für mich gewesen, sie hatte mich stets verstanden, hatte sich jedes noch so kleine Problem meinerseits angehört; sie war mein Fels in der Brandung gewesen, hatte ich mich doch einmal in den stürmischen Wellen der Meere verloren, doch sie war mir genommen worden, genommen vom Alter, es hatte sie eingeholt und langsam mit sich gezogen. Zu dieser Zeit war ich täglich bei ihr gewesen, sie hatte mir all ihr Wissen vermitteln wollen, aber die Zeit war schneller gewesen. Zurückgeblieben war nur ein Buch, ein Brief und mein Großvater, gemeinsam hatten wir angefangen das Buch zu studieren, so wie es sich meine Großmutter in ihrem Buch gewünscht hatte. Sie wollte, dass ich alles über unsere Gabe erfahren sollte und mein Großvater sollte mir dabei helfen. Und so ging es nun seit 4 Jahren, jeden Sonntag um dieselbe Zeit klingelte es an der Tür und er stand auf der Fußmatte. Die meiste Zeit blätterten wir die dicken Seiten durch, experimentierten mit dem Blick in die Zukunft oder schrieben neue Erkenntnisse auf, doch einmal im Jahr erzählte mein Großvater mir Geschichten über meine Großmutter, er sprach jedes mal in den höchsten Tönen über sie, sodass ich seine Worte förmlich vor mich sah. Doch als er mich heute ansah, seine Augen voller Stolz, erblickte ich etwas neues in dem stürmischen Grau seiner Augen, es war Furcht, Tod und Trauer. Unweigerlich bildete sich ein Kloß in meinem Hals. "Großvater, wirst du sterben?", fragte ich, meine Stimme klang nicht wie die einer 16-jährigen, es war die eines verängstigten Kindes. Der alte Mann vor mir nickte, einmal und nur ganz sanft. "Und frage dich nicht, warum du dies nicht kommen sahst Amalia, es sollte nicht so sein", jetzt wo ich es wusste hörte ich es auch, seine Stimme klang alt und zerbrechlich, doch er überspielte all dies mit seinem Lächeln, so wie er es immer tat. "Ich werde den Rest noch eben begrüßen und dann komme ich zu dir hoch", erwiderte er nur mit seiner normalen Stimme. "Und am besten legst du die Kissen wieder auf die Fensterbank", ergänzte er mit einem verschmitzten Lächeln und humpelte langsam ins Wohnzimmer, wo sich um diese Uhrzeit meine ganze Familie zusammenfand: Meine Mutter saß wahrscheinlich in ihrem Sessel und strickte Socken für den Winter, mein Vater hatte meistens nur Augen für den Fernseher und seinen Sport, mein großer Bruder würde an dem Bildschirm seines Handys hängen und mein Zwillingsbruder war wie immer in der Welt seines Buches, da war ich mir sicher, es würde ein typisch idyllischer Tag bei der Familie Reckon sein, außer für mich, denn ich wusste, dass wir alle Großvater zum letzten Mal sehen würden. Benebelt von dieser Erkenntnis schleppte ich mich die Treppe nach oben in mein Zimmer, wo ich mich auf den Kissen niederließ, die zuvor von der Fensterbank gefallen waren. Meine Gedanken schweiften umher und blieben letztendlich an den Tatsachen meiner Gabe oder wie meine Großmutter es immer nannte, an meinem Fluch hängen. In dem Buch hatte gestanden, dass jedes weibliche Mitglied einer Familie diese Gabe bei der Geburt in sich trug, doch meine Großmutter hatte nur Jungen das Leben geschenkt und da sie ein Einzelkind gewesen war, hatte das Gen der Gabe eine Generation übersprungen und so war mir keiner geblieben, der das gleiche Leid tragen musste, wie ich. Großmutter hatte immer gesagt, dass es noch andere Familien mit dieser Gabe gab, doch das konnte ich nicht glauben, es wirkte so irreal auf mich, es war einfach nicht logisch. Meine Gedanken wurden von einem leisen tock tock unterbrochen und als ich auf sah, stand mein Großvater im voller Größe vor mir. Sein Buckel war verschwunden, seine Brust reckte er stolz nach vorne und sein Rücken war durchgestreckt. "Bevor ich gehe muss ich dir noch einiges erzählen-", seine Stimme war kräftig und es fehlte jede Spur vom Alter. "-Urwen!", er nannte ihn, den Namen, der mir von meiner Gabe gegeben worden war, der Name des Feuers, welches durch das Auslassen einer Generation in mir loderte. "Doch das wichtigste, was ich dir mit auf den Weg zugeben habe, ist ein einfacher Rat...", er schaute mir tief in die Augen und kniete sich mühelos auf den Teppich. "Schau in den Spiegel, schau in deine Augen!", es war wie ein Befehl, er befahl mir das zu tun, was ich all die Jahre vermeiden sollte und ich wusste, dass ich zu gehorchen hatte, denn jetzt war mir klar geworden, dass mein Großvater nicht der war, der er vorzugeben gab.

Mein neues Kapitel, mit sagenumwobenen 1231 Wörtern auf die ich aufgrund meiner Schreibblockade äußerst stolz bin und bei denen ich hoffe, dass sie euch gefallen werden, wenn ihr aber irgendwas zu kritisieren oder andere Verbesserungsvorschläge habt, sagt sie einfach klar und deutlich! :)

Euch noch einen schönen Tag :3

-Mareya-

Die Seherin - Ein Blick in die Zukunft Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt