Chapter I / part 1

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Ich knöpfte den obersten Knopf meiner hellblauen Bluse zu, zog den Reißverschluss des rosanen Blümchenrocks zu, und brachte mein Haar in einem französischen Zopf unter. Ich angelte nach meinem Rucksack, der irgendwo unter meinem Bett verschwunden war, beförderte die Musikbox, die bis eben noch auf meinem Nachttisch gestanden hatte, hinein und ging die Treppe abwärts, durch das geräumige Foyer und das riesige Wohnzimmer in die Küche, in der meine Mutter mich schon mit dem Frühstück erwartete.
"Guten Morgen!", begrüßte sie mich und lächelte freundlich. "Hast du angenehm geschlafen?"
"Morgen", erwiderte ich. "Ja, ganz toll", sagte ich, zwang mir ein fröhliches Lächeln auf und bemühte mich, mir mein Desinteresse nicht all zu sehr ansehen zu lassen.
Meine gute Laune war wie jeden Morgen nur vorgetäuscht. In Wirklichkeit war ich hundemüde, schlecht gelaunt und hatte wahrscheinlich den absoluten Nullpunkt an Lust auf Schule erreicht. Aber Hauptsache in diesem Moment lächeln.
Ich aß brav meine Pancakes, die Emma jeden Morgen zubereitete, versuchte, mich aufgrund des Dinkelvollkornmehls, das sie allen Ernstes dafür verwendete, nicht zu übergeben und währenddessen meine aufrechte Haltung, sowie meine Tischmanieren beizubehalten.
Sobald ich fertig war, stand ich auf und wollte in das Foyer gehen.
Meine Mutter räusperte sich geräuschvoll.
"Hast du nicht etwas vergessen?"
Ich blieb im Türrahmen stehen und sah sie verwirrt an.
"Ich hab dich lieb, schöner Tag?", fragte ich und hob eine Augenbraue.
Sie deutete auf meinen Rock.
"So gehst du mir nicht aus dem Haus, meine Liebe!"
Dein Ernst? Jetzt habe ich schon einen rosanen Rock an und jetzt ist er noch zu kurz oder wie?
"Ach komm schon, ich habe keine Zeit, mich noch umzuziehen", antwortete ich und verkniff mir einen bissigen Kommentar.
"Deine Mutter hat Recht!", bestätigte mein Vater, der gerade die Küche betrat. "So wirst du dieses Haus nicht verlassen. Was sollen nur die Leute über uns denken? Deine Schwester würde sich nie so zeigen. Wie unangenehm!"
Lass bloß Avery aus dem Spiel!
Avery, meine vier Jahre ältere Schwester, war perfekt. Sie war der Inbegriff dieses Wortes, zur großen Begeisterung meiner Eltern. Sie war immer perfekt in der Schule gewesen, hatte immer die besten Noten gehabt, den besten Schulabschluss, hatte sich perfekt verhalten, perfekt alle Regeln befolgt, studierte mittlerweile an der perfekten Harvard University und hatte den perfekten Freund. Avery war in jeder einzelnen, beschissenen Sache, die sie machte, perfekt.
Ich ging wortlos an ihm vorbei, befreite mich in meinem Zimmer, so schnell ich konnte, von dem geblümten Rock, zog aus meinem Kleiderschrank einen gelben, knielangen Rock und spurtete, sowie ich diesen anhatte, hinunter in das Foyer, wo ich mir im Vorbeigehen meine schwarzen Bikerstiefel schnappte.
"Wow! Du hast dich an Bravheit diesmal selbst übertroffen!", rief Robyn mit entgegen, nachdem die Haustür ins Schloss gefallen war.
"Halt die Klappe!" Ich sprang über die Tür des roten Cabrios, drehte das Radio lauter und entfernte das Haargummi von meinem Zopf.
"Ich musste mich umziehen. Der rosane, geblümte Rock war den Herrschaften von Eltern zu kurz. Was würden nur die Leute denken und ach, Avery würde nie so rumlaufen, diese Bitch!"
Robyn lachte.
Ich fuhr mir genervt durch das mittlerweile offene Haar.
"Du bist echt gearscht mit deinen Alten! Ich bin verdammt froh, dass meine nie da sind."
"Ja, ist echt schön für dich, dass deinen Alten nicht die größte Anwaltskanzlei der Stadt gehört, während sie im Kirchenvorstand an oberster Stelle hocken. Die beiden mutieren zu Göttern mit ihrer Macht und dem eingetrichterten Glauben. Als ob man die Welt so betrachten könne."
Ich zog mir die Bluse über den Kopf und zwinkerte dem Kerl in dem Auto neben uns, an der Ampel, zu, der mich amüsiert beobachtete.
"Ich würde das nicht durchhalten, das alles vorzuspielen. Ich meine, ich bin froh, wenn ich mich nicht verstellen muss." Robyn betrachtete mich nachdenklich.
"Weißt du, wie die ausgetickt sind, als ich mir den Helix und die zweiten, dritten und das vierte Ohrloch stechen gelassen habe? Die hätten mich beinahe enterbt! Wenn die wüssten, dass ich nicht nur nicht annähernd so perfekt wie meine Schwester bin, sondern einen Meilenstein entfernt, in die gegenteilige Richtung, dann wäre Sense für mich." Ich hatte inzwischen die Bluse durch ein schwarzes, verschlissenes Croptop und den grässlichen Rock durch eine schwarze, zerlöcherte Jeans ersetzt.
"Tja, dann spiel' mal schön weiter die brave Tochter, damit wir so bald wie möglich in die Hamptons flüchten können."
"Robyn, wir haben dort noch nicht mal ein Haus!" Ich sah meine beste Freundin verständnislos an.
"Ja, genau deswegen brauchen wir ja das Geld. Dann können wir eine Party nach der anderen schmeißen. Sobald das Personal alles sauber hat kommt die nächste. Oder noch besser: zwei Häuser - während das eine noch gereinigt wird, feiern wir im anderen."
"Robyn, du klingst wie so eine verwöhnte, reiche Tussi!", gab ich zurück.
"Du meinst so wie Tiffany?" Sie schnitt eine Grimasse. "Das bin ich ja irgendwie auch, aber ich habe Klasse! Und ich schleime mich nicht überall ein. Und hochschlafen muss ich mich auch nicht."
Wir brachen in Gelächter aus.
"Achtung! Linkskurve!", warnte sie mich, bevor sie auf den Schulparkplatz abbog. "Nicht, dass du deinen Lippenstift wieder verkackst!"
"Nur weil du so scheiße fährst", entgegnete ich und verdrehte die Augen.
"So, wir sind da. Schon eine Idee, wem wir heute auf die Nerven gehen können?" Sie sah mich herausfordernd grinsend an und trat etwas zu heftig auf die Bremse.
"Wahrscheinlich Butler, wenn wir bis dahin noch leben." Ich warf ihr einen bösen Blick zu und schob mir die Sonnenbrille auf die Nase.
"Meinst du Junior oder Senior?"
"Senior macht mehr Spaß, oder?" Ich grinste heimtückisch und schwang mich elegant über die Autotür.
"Eyy! Graham!", grölte eine Stimme über den Parkplatz, aus der Richtung des Footballfeldes.
Ich stöhnte genervt und verdrehte die Augen.
"Dein Fan ist schon hier." Robyn zwinkerte mir zu.
"Und das, obwohl der Unterricht noch nicht einmal angefangen hat", bemerkte ich spitz.
Ich sah trotzdem zu ihm herüber, nur um mich zu vergewissern, dass er noch genau so gut aussah wie sonst.
Tat er.
Sein schwarzes Haar stand wirr in alle Richtungen ab. Die Bikerkleidung immer noch abgenutzt und zerschlissen. Seine funkelnden Augen ruhten auf mir.
Ich nickte einmal mit dem Kopf zur Begrüßung und ging dann weiter, geradewegs zu den Toiletten.
Robyn folgte mir.
"Ich beneide dich ja schon", gab sie zu.
Ich zog eine Augenbraue in die Höhe und blickte sie verständnislos an.
"Du kannst wann immer du willst mit dem Kerl Sex haben. Und trotzdem bist du kälter als Whiskey auf Eis zu ihm. Ich kam nur einmal in den Genuss."
"Du hast die falsche Taktik", erwiderte ich und zuckte mit den Schultern.
"Ach ja? Und was ist deine Taktik?"
Sie stieß die Tür schwungvoll auf.
Ich zuckte mit den Schultern und grinste.
"Bin wohl einfach anziehender als du."

"Ihr kommt doch wohl mit?!" Tyler blickte einen nach dem anderen forschend an.
"Sagtest du Club und Alkohol?", fragte ich und sah von meinem Handy auf. "Da bin ich dabei."
"Was würde man auch anderes erwarten?" Robyn grinste mich an und bejahte dann ebenfalls an Tyler gewandt.
"Gut, Begleitung für den Abend gesichert." Er grinste wohltuend.
"Was ist mit Kellan, Vince, Jenna und den anderen?" Ich steckte mein Handy zurück in die Hosentasche.
"Keine Zeit", erwiderte Tyler.
"Auch gut." Ich zuckte mit den Schultern.
Ich warf Finn, der bisher noch nichts gesagt hatte, einen Blick zu. Seine grünen Augen ruhten auf mir. Sie waren von feinen, roten Adern durchzogen. Sein dunkles Haar sah noch zerzauster aus, als am Morgen.
"Gib mal rüber!", forderte ich ihn auf, den Joint an mich weiterzureichen.
Ich nahm einen tiefen Zug.
In diesem Moment vernahm ich ein Räuspern hinter mir, das sehr vertraut klang.
Das darf doch wohl nicht wahr sein!
"Isabella! Kannst du mir erklären, was das soll?", ertönte die scharfe Stimme.
Verdammt!
Ich stand langsam auf und drehte mich währenddessen noch langsamer um.
Averys blaue Augen schienen mich, wie mit Giftpfeilen, zu durchbohren.
"Schwesterherz", entgegnete ich kalt. "Was machst du denn hier?"

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