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Ihr Anruf kam unerwartet, spät am Abend. Dennoch nahm er den Hörer schon beim zweiten Klingeln ab und meldete sich mit einem knappen „Hallo?"
„Ich bins", sagte sie leise und er seufzte. „Was gibt's?" sein Tonfall war leicht gereizt, wie immer, wenn er außerhalb des Nötigen mit ihr sprach. Kurz erwog er, einfach aufzulegen, wartet dann aber doch auf ihre Antwort.
„Ich," sie zögerte deutlich hörbar. „Ich wollte mit jemandem reden, sonst ist da niemand."
„Hast du alles versucht?" Auch wenn diese Frage sie verletzen konnte, stellte er sie. Wenn es so war, dann war das ihr Problem, nicht seines. Sie gab am anderen Ende der Leitung einen Laut von sich, der ein bitteres Lachen sein konnte, oder ein Schluchzen.
„Ja," kam es schließlich, „Keiner zu Hause, oder keine Zeit für mich. Aber mir ist jetzt nach Reden."
Also musste er sich wieder mit ihr herumschlangen, sich um sie kümmern.
„Kannst du dir vorstellen, dass das für mich auch eine Belastung ist? Ich versuche zwar, es zu ignorieren, aber wenn du mich jetzt auch noch zu Hause anrufst..." er lies das Ende des Satzes im Raum stehen, dann kam ihm eine Idee. „Bist du das auch, die hier immer mal wieder anruft und auflegt?"
Ihr „Nein" kam zögernd, dann sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. „Ich wollte Ihnen nur sagen, dass mir das alles Leid tut. Aber es ist vorbei. Ich verspreche es Ihnen."
Die letzten Worte konnte er kaum verstehen, sie waren kaum mehr als ein Flüstern, aber ihre Stimme brach nicht.
„Genau das hast du mir schon einmal gesagt," seufzte er. „Bist du jetzt zu Hause?"
„Ja, aber ich sagte doch schon, es ist keiner da, die sind zu ner Feier. Und es tut mir wirklich leid." Am anderen Ende der Leitung hörte er ein Schnüffeln, schwieg dann aber. Sie wollte reden, dann sollte sie es auch tun. Eine ganze Weile war es still, dann unterbrach er doch wieder die Stille.
„Wenn nichts mehr ist, dann kannst du auch Schluss machen."
Ein gequältes schwaches Lachen war die sofortige Antwort. „Nein, bitte, ich möchte jetzt nicht alleine sein. Bitte, nur dieses eine Mal, dieses letzte Mal."Dann war wieder Stille. Um nicht einfach nur so dazusitzen langte er nach der nächsten Klausur, fing an sie zu korrigieren. Mit dem Hörer am Ohr ging er die Seiten durch. Gerade als er beschloss doch das Gespräch zu beenden sprach sie wieder.
„Danke, den Rest schaffe ich alleine. Ich..." Dann war der Anruf beendet und er schaute unschlüssig auf den Hörer in seiner Hand. Welchen Rest? Egal, er war sie los, und das war alles, was ihm im Moment wichtig war.
Am nächsten Tag war sie nicht in der Schule. Am Tag danach sprachen sie über ihre Todesanzeige. Und er bekam ihren Brief.
-2-
Er war ihre letzte Chance. Niemand hatte Zeit. Mit schwachen, zitternden Fingern wählte sie seine Nummer. Schon beim zweiten Klingeln nahm jemand ab. Er war es, meldete sich mit einem knappen „Hallo".
Als sie seine Stimme hörte schlug ihr Herz schneller, fast noch schneller, als sie leise sagte „Ich bins." Fast konnte sie seine Ablehnung durch die Leitung spüren. Es tat weh, mehr sogar, als das Messer weh getan hatte. Eigentlich hatte das überhaupt nicht weh getan.Sie wollte mit ihm reden, aber ihr fehlten die Worte. Ihr reichte es auch schon, seinen Atem zu hören, seine Stimme. Automatisch beantwortete sie seine Fragen. Antwortete nach dem Gefühl in ihrem Inneren. Es war ein Chaos. Schmerz, Verzweiflung,Wut, aber auch Reue, für das, was sie ihm angetan hatte, ihm gerade noch antat. Dennoch weinte sie nicht. Schon lange waren die letzten Tränen getrocknet, bald war es vorbei. Bald.
Sie fühlte sich so schwach, konnte kaum sprechen. Einfach nur daliegen und seinem Atem lauschen.
Jetzt würde das letzte Mal sein, dass sie ihn hören konnte, mit ihm sprach. Überhaupt mit jemandem sprach. Gerade jetzt brauchte sie jemanden in ihrer Nähe.
Denn jetzt war alles zu spät. Sie lag auf ihrem Bett auf dem Rücken und schaute an die Decke, der Telefonhörer neben dem Ohr liegend. Ihre Eltern waren zu einer Feier, niemand zu Hause, diese Nacht war perfekt.
Da schlug er ihr vor, das Gespräch zu beenden. Über seine wörtliche Formulierung „Schluss machen" musste sie lachen. Verstand er sie schon wieder nicht? Aber sie brauchte ihn. Ein Rest Angst war noch da. Angst, wie es weiter gehen sollte.