Der Flug

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Er hasst es zu fliegen, schon immer hat er es gehasst. Er kann diese klinische Sauberkeit sowie das grässliche Weiß nicht ausstehen, so als ob man damit vertuschen wollte, welche Menge an Abgasen ein Flugzeug hinterlässt. Von diesen oberflächlichen Lächeln und dem minütigen Satz, «wollen sie nicht noch was zu trinken?», hatte er ebenfalls genug. Deshalb hatte er eigentlich gar nicht fliegen wollen. Eine Fahrt mit dem Zug und anschließend einen Nachmittag an Bord eines Schiffes, das Transportmittel mit dem er ohnehin am besten umgehen kann, wären ihm viel lieber gewesen. Aber seine Mutter hatte nicht mit sich reden lassen, sie hatte eine eiskalte Miene aufgesetzt und gesagt, sie ließe ihn nicht nach Teneriffa, wenn er nicht flöge. Und er muss dorthin, das weiß sie. Also sitzt er, nachdem er nicht abwenden konnte, dass seine Mutter ihn zusammen mit Carla und Chris zum Flughafen begleitet und ihm ein letztesmal herzzereissend zugewinkt hatte, auf einem Platz am Fenster und starrt durch die matt glänzende Scheibe hinaus auf die Wolken, die an ihnen vorbei ziehen. Als er noch klein war hatte er immer gedacht, die Wolken wären andere Planeten, weil er die eigentlichen Planeten ja nie wirklich sehen konnte. Als er jetzt daran denken muss, fühlt es sich so weit weg an, wie eine Erinnerung aus einem anderen Leben. Auf seiner Unterlippe kauend, lässt er seinen Blick gedankenlos durch den Raum schweifen. Neben ihm sitzt eine Frau mittleren Alters, die ihre Haare unter einem Kopftuch verborgen hat. Vierzig Minuten schon diskutiert sie mit ihrem Nebenmann in einer Sprache die Carlos nicht versteht. Was kann es schon sein? Vielleicht Portugiesisch? Indisch? Er kann nicht von sich behaupten besonders sprachbegabt zu sein. Deshalb hat er keine Ahnung. Dahinter kann er einen Mann erkennen, der angesichts des altertümlichen Anzugs den er trägt vermutlich auf dem Weg zu einem wichtigen Termin ist. Auf seinem Schoß steht ein Laptop auf dessen Display er schon längere Zeit wie gebannt starrt. Ab und zu stöhnt er genervt und schleudert seinem Computer einige nicht jugendfreie Beleidigungen entgegen. Den Platz am Ende der Reihe füllt eine junge Frau, die den Kopf an ihre Lehne gelegt hat und schläft. Auf ihrem Knie liegt ein dünnes aufgeschlagenes Taschenbuch, das sie zuvor gelesen hat. Zu gerne würde Carlos wissen, um welches es sich handelt auch wenn er nicht sonderlich viel liest abgesehen von der komplexen Literatur die er für die Schule benötigt. Das erinnert ihn daran, was er jetzt eigentlich tun sollte. Resigniert lässt er den Kopf auf das Polster seines Sitzes sinken und seufzt. Eigentlich sollte er nämlich jetzt einen Text über die Anatomie von Schlangen lesen, sich die wichtigsten Anhaltspunkte unterstreichen und in zusammenhängenden Sätzen die beiliegenden Fragen beantworten. Doch während er so darüber nachdenkt, merkt er sofort wie wenig Lust er dazu hat. Auch wenn in wenigen Wochen die ersten Prüfungen starten. Abgesehen davon kann er sich im Flugzeug ohnehin nicht konzentrieren. Das redet er sich zumindest ein. Also streift er sich kurzerhand seine Kopfhörer über die Ohren, fischt nach dem tief in seiner Tasche vergrabenen Handy und stellt zufrieden das neuste Lied Avichiis ein. Als Carlos nun wieder aus dem Fenster sieht und sich sein Blick auf die melancholisch dreinblickenden Wolken senkt, muss er daran denken wie er das erste mal geflogen war. Zu der Zeit war er fünf Jahre alt gewesen und schon damals hatte er auch nur die Vorstellung in einem monströsen Flugzeug zu sitzen, kaum ertragen. Sie waren damals nach Teneriffa geflogen. So wie in jedem Jahr danach. Alles in allem war es ein recht chaotischer Urlaub gewesen. Nachdem Carlos und seine Eltern gelandet waren hatten sie eine gefühlte Ewigkeit nach einem passenden Hotel gesucht, das um diese Zeit noch Gäste aufnahm. An eine Unterkunft hatten seine Eltern vor der Abreise nämlich nicht gedacht. Auch wenn ihn das nicht sonderlich verwundert, schließlich sind seine Eltern beide auffällig unorganisierte Menschen. Jedenfalls hatte es anschließend auch noch angefangen zu regnen. Das hatte ihm zumindest sein Vater erzählt. Denn Carlos war so erschöpft von der Reise und dem nachfolgenden Desaster gewesen, dass er mittlerweile nahezu komatös weggedämmert war. Er muss fast laut lachen als er daran denkt und schüttelt amüsiert den Kopf. Während er den Song wechselt und dabei zum Takt des Liedes nickt, fällt ihm die Hitze auf. Auch wenn es erst Mitte Mai ist herrschen sonderbare Temperaturen. Beinah erdrückend. Carlos fasst sich an die Stirn und merkt das sich dort bereits vereinzelte Schweisströpfchen gebildet haben. Er setzt seine Brille ab, weil das Plastik der Bügel ihm unangenehm an der Haut klebt und beginnt die sich spiegelnden Gläser zu putzen. Er hat die Brille seit er acht ist. Früher hatte er sich fürchterlich dafür geschämt und sich kaum getraut sie öffentlich zu tragen, doch mittlerweile gewöhnt er sich daran. Er akzeptiert, dass sie ein Teil von ihm ist, wie die Schuhe die er Morgens an und Abends auszieht. Fast hätte Carlos das Ohrenbetäubende Fiepen nicht gehört, dass in dem Moment ertönt und auch die anderen Fahrgäste beinahe um den Verstand zu bringen scheint. Schmerzerfüllt verzieht er das Gesicht und hält sich die Ohren zu um, den entsetzlichen Ton nicht länger ertragen zu müssen. Als das Geräusch langsam abebbt schielt er zu dem Mann mit dem Anzug, der drei Plätze rechts von ihm sitzt. Er hat mittlerweile aufgehört seinen Laptop wutentbrannt anzubrüllen, welcher jetzt gut verstaut aus seiner Tasche ragt. Stattdessen ist er in eine aufgeregte Diskussion mit einer Flugbegleiterin vertieft. Die Stewardess runzelt die Stirn, streicht sich gestresst eine Haarsträhne hinter die Ohren und zeigt hektisch in Richtung der Motoren. Carlos blickt sich um und spürt augenblicklich das Gewicht der Beunruhigung, die in der Luft liegt und sie alle wie ein schwerer Stein zusammen zudrücken scheint. Was ist nur passiert? Hat er etwas verpasst? Mit schweißnassen Gesichtern sehen sich die anderen Fahrgäste an. Sie sind ebenso verwirrt, wie er sich fühlt. Allerdings entdeckt er im hinteren Teil des Flugzeuges auch ein Mädchen, das beinahe gelangweilt aussieht. Irgendwie entspannt ihn das ein bisschen. Er versteht ohnehin nicht warum er auf einmal so paranoid geworden ist. Er ist kein ängstlicher Mensch. War er noch nie. Bei den bedenkenswertesten Situationen hat er meist die Ruhe weg. Warum soll sich das nun ändern? In dem Moment kommt das grässliche fiepen zurück. Diesmal zuckt er vor Schreck zusammen, als er es hört. Carlos merkt, dass einige hinter ihm erschrocken nach Luft schnappen. Wieder kaut er nachdenklich auf seiner Unterlippe, sein Gesicht zu einem Ausdruck absoluter Konzentration verzogen. Schließlich lehnt er sich vor und sieht aus dem Fenster. Sie hatten einiges an Fahrt aufgenommen. Der Himmel rast geradezu an ihm vorbei. Ist das normal? Sollte nicht genau jetzt die rettende Durchsage des Copiloten kommen, der ihnen allen Versichert, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gibt? Der Lärmpegel hat rapide Zugenommen. Die Passagiere, die ihren Bekannten über die Reihen hinweg bestürzte Mitteilungen zurufen, werden minütlich mehr. Nur Carlos bleibt still sitzen. Auch wenn er es nicht wahrhaben will, quillt er innerlich förmlich über vor Panik. Wo ist das Servicepersonal? denkt er. Warum sagt keiner etwas? Erschöpft lässt er sich gegen die Scheibe sinken. In diesem Moment fühlt er sich so einsam wie noch nie. Carlos ist eine verzweifelte Insel in einer Menge von Fremden die nur ebenso fühlen wie er und er weiß nichts, gar
nichts sich daraus zu befreien. Auf einmal verliert das Flugzeug an Stabilität. Heftig wird er in das weiche Polster seines Sitzes zurück geschleudert. Gequält schließt er die Augen. Dabei ist er eigentlich schwindelfrei. Achterbahnfahrten haben ihm nie etwas ausgemacht. Aber das hier ist etwas ganz anderes. Carlos krallt seine Finger in die Armlehnen bis die Knöchel weis hervortreten. Um keinen Preis will er erneut nach vorn gedrängt werden. Kurz fällt ihm auf das nun schon zum dritten Mal das gleiche Lied aus seinen Kopfhörern dröhnt. Doch es ist ihm gleichgültig, er hat keine Energie es zu wechseln. Das Flugzeug hört nicht auf zu schauckeln und das nackte Chaos bricht aus. Taschen rutschen von dem hinteren, in den vorderen Bereich. Er sieht Leute die sich entsetzt an ihren Tischen festhalten, um nicht abzurutschen. Auch Carlos merkt, wie er langsam nach vorne kippt und versucht irgendwo Halt zu finden. Doch er schafft es nicht. Sein Kopf kracht unsaft auf den Vordersitz. Seine dicke Brille rutscht ihm von der Nase und fällt vor ihm auf den Boden. Sie verschwindet zwischen den Sitzen. Carlos kann sie nicht erkennen. Selbst wenn er noch richtig sehen könnte und das kann er nicht. Er ist Kurzsichtig -5. Alles vor ihm verschwimmt zu einem schwer entzifferbaren Nichts. Er hört Schreie. Viele Schreie. Laute, leise, schrille oder tiefe und einen Schrei der ihm sehr bekannt vorkommt. Zu spät merkt er, dass es sein eigener ist. Er fühlt etwas das er schon lange nicht mehr gefühlt hat. Es ist vergleichbar mit der Emotion die er gespürt hat, als er das erste mal mit einer Fünf nach Hause gekommen war. Oder damals als sein Teddy mit einer Lungenentzündung im Bett lag. Aber dennoch ist es etwas vollkommen anderes. Intensiveres. Angst. Echte Angst. Er liegt dort auf dem Boden des Flugzeuges, starrt an die Decke und ahnt nicht, dass dies eines der schlimmsten Flugunglücke der Geschichte ist. Carlos spürt nichts, als die Maschine von 10 Km Höhe auf die Wiese eines spanischen Schäfers kracht. Nein, das letzte was er denkt ist: Ich hasse es zu fliegen. Dann, ist er weg. Und die Schafe sind noch heute traumatisiert.
- Ende -

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