WER ICH BIN

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Es ist kalt, das Geländer hinter mir. Ein leichter Wind weht - Stille. Tausend Gedanken schwirren durch meinen Kopf und trotzdem Stille. Weit unter mir - Stille, zumindest noch. Bald fährt auch hier der nächste Zug in den Norden vorbei. Ich atme tief ein und wieder aus, lege meinen Kopf in den Nacken und schließe die Augen. Je mehr ich nachdenke, desto mehr steigt die Angst und mein Leid. Ich darf an nichts denken - es beeinflusst mein Handeln. Ich brauche die Stille. "Es ist ok!", haben sie gesagt. "Es ist menschlich!", haben sie gesagt. Dabei ging es mir besser. Besser als jetzt. Denn nichts übertrifft die Hürde, an der ich zu scheitern drohe.  Ein TGV rast unter mir vorbei. Wahrscheinlich auf dem Weg nach Paris, der Stadt der Liebe. Nur um das ging es: Liebe. Doch die Umstände machten sie zu einer schwierigen Liebe. Zumindest der Weg dorthin war schwierig. "Lass dir Zeit!", haben sie gesagt. "Mach es, wenn du dir sicher bist!", haben sie gesagt. Viele sprechen mir Mut zu, geben mir Tipps und geleiten mich auf dem Weg, hin zum Moment der Offenbarung. Ich war motiviert, ich bin motiviert! Ich fühle die Tränen. Doch all die Hilfe und all der Mut zerspringen in 1000 Teile. Denn der letzte Schritt ist meiner - allein. Meine Hände werden rutschig. Meine Sicht verschwimmt in den Tiefen meiner Tränen. Ich zittere. Irgendwo hinter mir geht die Sonne unter. Meine Mutter, sie war es, die mich groß zog und mir dieses Leben gab. Sie war immer für mich da. Mit ihr haben wir alle schweren Zeiten durchgestanden. Sie war der Motor. Der einzige Grund, wieso alles funktionierte. Ich schließe meine Augen, um den Strom zu unterbrechen. Erst demletzt sprach ich mit ihr, was los war und wie es mir ging. Doch die Chance - meine erste große Chance - verwarf ich. Und wegen mir und ihr - die Person, die mir alles bedeutet - stehe ich nun 15 Meter über dem Abgrund und alles wegen drei kleinen Wörtchen, die doch so schwer waren. Sie kann ja nichts dafür! Die letzten Sonnenstrahlen treffen auf mein verheultes Gesicht. Leise flüstere ich in die kühle Abendluft: "Ich will es dir sagen, kann es aber nicht!". Ich kämpfe gegen mich selbst. Gegen den großen Teil in mir: die Angst! Ich spüre, wie alles um mich herum verschwimmt. Jetzt ja nicht loslassen. Ich will bereit sein. Plötzlich, ein leichtes Vibrieren in meiner linken Hosentasche. Vorsichtig greife ich mit einer Hand nach meinem Smartphone, die andere immer noch am kalten Geländer. 15 verpasste Anrufe, die meisten von ihr. Die Tränen finden zurück in meine Augen. Da ist noch eine Nachricht. Von ihm. Er weiß es und hatte mich auch immer unterstützt. Er und die anderen waren wie meine Brüder. In meinem Kopf lese ich mir die Nachricht laut vor: "Hey, deine Mom hat gerade bei uns angerufen. Sie sagt, du wärst spurlos verschwunden! Sie war wirklich aufgelöst!". Eigentlich will ich gar nicht weiterlesen. "Du willst es ihr sagen, stimmts? Ja, ich weiß von deinem Vorhaben. Melina hat es mir erzählt. Ich weiß nicht, was ich tun kann, um dir zu helfen. Aber ich will, dass du weißt, dass ich hinter dir stehe, auch wenn ich das nicht oft zeige. Du bist sowas wie ein Bruder. Du schaffst das! Sie ist deine Mutter! Sie wird es akzeptieren, sie liebt dich! Bitte melde dich, damit wir uns keine Sorgen mehr machen müssen!". Jetzt war nichts mehr zu halten. Mein Kopf schreit: "Lass los!". Mein Herz schreit: "Sag es!". "Lass los!". "Sag es!"."Lass los!". "Sag es!". Das Geländer an meiner Hand verschwindet, erst rechts, dann links. Ein einziger Gedanke schießt mir noch durch den Kopf: "Mama, ich bin schwul!". Stille.

WER ICH BIN - KurzgeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt