11.4.2005

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»Hey Ines.«
»Hallo.«
»Und wie geht's dir heute?«
»Gut.«
»Okay, ehm.. Hör zu Ines. Ich will jetzt nicht um den großen Brei herum reden, also hör mir mal genau zu.«
»Okay.«
»Ich kann die Krankenhaus Rechnung nicht mehr bezahlen. Deswegen musst du wieder weg. Diesmal geht es auf ein Internat.. Es ist ein bisschen weiter weg, aber ich glaube das wird dich nicht besonders stören. Jedenfalls sollte es das nicht, denn du solltest dich glücklich schätzen. «
»...«
»Morgen früh geht es los. Pack schon mal deine Sachen.. Nicht, das du wirklich viele hättest. Und zieh die Bettwäsche ab.«

»Okay.«

Nachdem Abby gegangen war, packte Ines langsam ihre Persönlichen Dinge ein. Es waren eigentlich kaum noch ihre Persönlichen Dinge, denn all ihr hab und gut wurde entweder auf Ebay versteigert, auf dem Flohmarkt verkauft oder einfach weggeworfen denn ihre Tante Abby war ganz sicher kein Messi, (wie sie gern sagte) und sie hasste jegliche Art von Trödel. Ines kannte das Ein Mal Eins auswendig und sie wusste, dass beim Einschlafen zu erst der Sehsinn dann der Geschmackssinn, als nächstes der Geruchsinn,  der Tastsinn und zu guter letzt der Gehörsinn nachgeben. Trotzdem, waren ihr die beiden Begriffe 'Messi' und 'Trödel' völlig unbekannt. Doch anstatt sich darüber den Kopf zu zerbrechen, nahm sie es einfach so hin. Irgendwann würde sie die Bedeutung dieser Wörter schon herausfinden

Das ungemütliche Stahlbett quietscht, als Ines sich darauf dreht.
Den Blick auf das offene Kerkerfenster über ihrem Bett gerichtet, stellte sie sich vor es wäre ein kaputter Fernseher. Sie hatte seit über einem Jahr kein Fernsehen mehr geschaut. Ob die Sendungen sich seitdem geändert haben? Wurden vielleicht welche abgesetzt? Oder wurden neue Hinzugefügt? Und wenn ja, würde sie sie wohl mögen? Sie erinnerte sich an ihre alte Lieblingsserie. Fünf Tage die Woche, immer zum gleichen Zeitpunkt saß sie mit ihrer Mutter auf dem grauen Polstersofa und schaute gemeinsam mit ihr Fernsehen. Ob die Schauspieler sich wohl stark verändert haben? Sie wusste es nicht.
Schritte durchbrachen die Stille der Nacht. Direkt vor dem Fenster machten sie halt. Ines Zimmer befand sich im Kellergeschoss, weswegen sie nur ein Paar schwarze Stiefel im Schein einer Taschenlampe erkannte. Auf anhieb wusste sie zu welchen Füßen diese Schuhe gehörten. Ihr Körper verkrampfte schlagartig.
Als sie ein rascheln hörte, wusste sie das er sich zu dem Fenster herunter beugte. Schnell schloss sie die Augen, doch ihr unkontrollierter Atem verriet sie. Durch ihre Augenlider drang ein unangenehmes Licht, dann hörte sie ein heiseres Lachen. Sein Lachen. Ines wusste dass er sie durchschaut hatte, trotzdem lies sie die Augen geschlossen, in der Hoffnung, er würde sie diesmal vielleicht doch noch in Ruhe lassen. Doch er tat es nicht.
Das unangenehme Licht der Taschenlampe trieb ihr Tränen in die Augen.
Zum Glück, dachte sie, kullerten sie ihr nicht die Schläfen hinunter. Sie hatte lange Zeit nicht mehr geweint.
Inständig fragte sie sich, ob es ungesund ist nicht zu weinen. Dann fragte sie sich: Wieso weinen wir Menschen überhaupt? Also abgesehen von der Biologischen Erklärung, machen Tränen doch gar keinen Sinn. Sie findet Tränen doof. Sie sind ein Zeichen von Schwäche, und von Verletzlichkeit.                                             
Ines war schon immer ein wenig anders. Oder wie ihre Tante sie gern nannte, "sonderbar".

Als sie in den Kindergarten kam, konnte sie schon Multiplizieren, Addieren, Subtrahieren, und Dividieren. Sie kannte sogar den Unterschied zwischen Konsonanten und Vokalen. Alles was in ihrem Umfeld passierte, nahm sie bis auf's kleinste Detail wahr. Jedes vorbei fliegendes Insekt, jedes Blatt das vom Baum abfiel, und sie merkte sich alle Nachnamen die sie auf Briefkästen oder Klingeln zu sehen bekam. Es war keine Absicht, sondern es passierte einfach. Selbst, wenn sie noch so stark versuchte jedes Husten oder jede Bewegung ihrer Mitmenschen zu ignorieren. Noch bevor ihre Eltern sie zu einem Arzt bringen konnten, starben sie bei einem Schrecklichen Autounfall.

Irgendwann ging das Licht so oft hintereinander an- und aus, das sie es nicht mehr ertrug ihre Augen geschlossen zu halten. Da wusste sie, sie hatte endgültig verloren.
» Komm schon Ines. Du kennst das doch schon.. Ab morgen bist du weg, ich will dich noch einmal sehen. «
Es brauchte eine weile, bis sie seinen Anweisungen widerwillig folgte.
Langsam streifte sie sich ihre Klamotten ab...

PusteblumenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt