Leben

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Wir schreiben das Jahr 2057. Filme veranschaulichten die Zukunft als eine friedliche, hochmoderne und technologisch fortgeschrittene Gesellschaft. Alles wäre gechromt, geregelt und maschinell. Niemand hätte die tatsächliche, dunkle, verrottete Welt kommen sehen. Die mit Schrott verwüsteten Straßen strahlen paradoxerweise Leere aus. Die Leere, die Rae spürte als der nach Eisen müffelnde Wind ihr ins Gesicht pustet. Sie strich sich ihre Haare aus dem Gesicht während sie mit ihrer anderen Hand die verrostete Eisenplatte vor ihr wegschleuderte. Tatsächlich war es eine minimale Linderung für die vom Stress gezeichnete Rae. Den Rucksack wieder über die Schultern geschwungen machte sie sich auf den Weg zu dem Ort, den man unter anderen Umständen Zuhause nennen könnte. Etliche Pfützen durchnässten ihre viel zu großen Schuhe und der nach Rost stinkende Regen brannte auf ihrer Haut wie Säure. Kein Wunder, die grässlich alte Schuluniform ist alles, was ihr von den verbrannten Ruinen ihres verfallenen Hauses an Kleidung blieb. Das Knurren ihres Magens war mittlerweile das einzige was Rae überzeugte noch nicht tot und in der Hölle gelandet zu sein. Wie sehr wünschte sie sich ein Stück Fleisch, wie es auf den riesigen, zerfetzten Plakaten abgedruckt wurde. Wie sehr wünschte sie sich einen Ort, der weniger zerstört ist, mit Menschen und ohne ums Überleben kämpfen zu müssen, korrigierte sie ihre Gedanken verächtlich. Dieser Wunsch würde ihr wohl auf ewig verwährt bleiben, denn Tiere gab es seit Jahren nicht mehr. Außer den kleinen insektenartigen Wesen, die durch die Luft schwirren, auf der Suche nach etwas Lebendigem. Früher wären sie wohl Mücken gewesen, heute sind sie nur noch eine Verstümmelung und Mutation ihres alten Selbsts. Das metallische Surren dieser Kreaturen gepaart mit Rae's Magenknurren repräsentierten die zum Alltag gewordene Realität. Eine zerstörte Welt ohne Motivation am Leben zu bleiben.

Weiter suchte Rae sich ihren Weg durch die Trümmer der ehemaligen Prestigebäude oder zu menschlichen Zeiten noch Hochhäuser genannt. Mittlerweile ist beim Anblick der Ruinen und Wracks, welche sich zu gigantischen Bergen Altmetall türmen, nicht mehr erkennbar ob es Überreste von Häusern, Autos, Hubschraubern oder Bomben sind. Inmitten beiden Gebilde, bei welchen jeweils das zweite Stockwerk wie rausgerissen aussah, befand sich ein Zugabteil, das wie auch immer zwischen die Hauswände katapultiert wurde. Dort wartete Rae's einzig übrig gebliebenes Familienmitglied im gemeinsamen spärlich eingerichtetem Zuhause. Sie duckte sich um unter der Säule her zu kriechen, die eine Wand des rechten Hauses beim Umfallen zerstörte. Hinter den Wracks befand sich bereits der Fuß der Treppe, welche genau 55 Stufen hat, ehe sie in den stetig von dunklen Wolken dominierten Himmel führte. Sie joggte die Stufen bis Nummer 20 hoch, denn dort wo Nummer 21 sein sollte ist ein ein Loch durch das sie die auf die blitzenden Kabel und surrenden elektronischen Geräte blickte. Mit einem Satz übersprang sie 21 und ließ das klaffende Nichts hinter sich. Ungefähr bei der Hälfte der Treppe sprang auf ein offenes Stockwerk wo ihr auch schon der mit einer armseligen Decke verdeckte Eingang des Zugabteils entgegntete. Sie strich die Decke zur Seite um darunter her zu schlüpfen. "Hey Mom, ich bin wieder da", rief Rae während sie bereits eine der Kabinentüren zu Seite schob und ihren Kopf hindurch steckte. Sie sah lediglich das Fenster mit einem traumhaften Blick auf Schutt und Asche, welches jedoch auch von ihrer Mutter mit Zeitungspapier bedeckt wurde. Die gewohnten feuerroten langen Zöpfe sprangen ihr jedoch nicht wie üblich ins Auge. "Mom?!" rief der nun alarmierte Teenager voller Sorge. "MOM WO BIST DU? MOM?" nun schrie sie hysterisch und lief so schnell durch das Abteil, dass das Glas auf dem provisorischen Tischchen neben dem Fenster zu wackeln begann. "Rachel bis du das?", Erleichterung bahnte sich einen Weg durch ihre dunklen, paranoiden Sorgen. Die Kabinentür ihres Zimmers schob sich zur Seite und eine völlig ruhige und teils verwirrte kleine Frau mittleren Alters kam zum Vorschein. Rae schmiss ihren Rucksack auf denBoden und nahm ihre Mutter fest in den Arm.. "Mom du hast mir so einen Schrecken eingejagt!", nuschelte Rae in ihre Haare. Ihre Mutter hingegenn lachte leicht. "Aber Liebes ich habe doch nur dein Bett gemacht! Du machst dir immerzu viel zu große Sorgen." Langsam lösten sie sich aus ihrem zu einer Seltenheit gewordenen Mutter-Tochter-Moment.

"Nun erzähl mal Schatz, wie war die Schule? Hast du mir meine Milch auf dem Heimweg mitgebracht wie ich dich gebeten habe?". Das Lächeln ihrer Mutter war so schön, so natürlich, ein völliger Kontrast zu den dunklen Augenringen, die unter ihren matt gewordenen, grünen Augen prangen. "Nein Mom, ich habe die Milch schon wieder vergessen." "Liebling, zum wie vielten Mal vergisst du jetzt schon die Milch?" 53 Mal. "Keine Ahnung, ich bin eben vergesslich."Rae stieg in das unschuldigste Kichern ihrer Mutter mit ein. "Na gut, ich könnte natürlich selbst eben zum Supermarkt gehen wenn ich nicht so viel zu tun hätte mit der Arbeit." Es folgt der typisch theatralische Seufzer. "Tja Mom, Theaterskripte schreiben sich nunmal nicht von selbst!" "Ja Ja so viel zu tun so viel zu tun , so wenig Zeit so wenig Zeit.", flüsterte sie und ging an ihr vorbei in ihr 'Zimmer', wo Rae auch schon das rascheln von Papier hören konnte. Sie schmiss sich auf ihr kleines Bett und starrte auf ihre Kunstwerke in der Decke. Mit Messern und Feuer hatte sie die Phrasen 'Vergiss nicht wer du bist' und 'Vergiss nicht wo du bist' eingraviert. Manchmal dachte Rae es sich einfach zu machen. Einfach alles zu vergessen, wie ihre Mutter.

Ihre Mom und sie selbst flüchteten während den Kriegs in einen Bunker mit circa 200 anderen. Der Bunker hatte die größe von zwei Klassenräumen und war 300m tief in der Erde. Zuerst dachten alle, niemand würde sie dort finden es war sehr abgelgen, weshalb jeder sich in Sicherheit fühlte. Bis die ersten Bomben einschlugen. Rae war zu dieser Zeit 10 Jahre alt und trug ihre dunklen Haare noch in zwei Zöpfen. Gerade spielte sie mit ihrem besten Freund Adam einem 11 jährigen relativ großen , schlaksigen Jungen, der jedoch nie Freunde hatte und von allen als Schwächling abgestempelt wurde, als der erste Knall ertönte. Lautes Geschrei von allen Seiten war die Folge. hysterische Mütter brüllten wirr die Namen ihrer Kinder, Babys schrien und Menschen kauerten sich auf den Boden in die Ecken. Sie erinnerte sich Adam mit sich zu ihrer Mutter gezogen und hingekauert zu haben als bereits der Beton von oben herunter rieselte. Der örtliche Priester sprach Gebete und taufte einige Mitbürger mit Wasser aus Plastikflaschen damit sie, wenn alles schieflief, wenigstens die Hoffnug auf Gott hatten. Das letzte an das Rae sich erinnerte war das Beben der Bodens nach zwei weiteren ohrenbetäubende Aufschlägen gefolgt von einem leisen Zischen und einen blauen Rauch der langsam den Weg zu den zusammengekauerten Menschen fand. Unmerklich hatte er den Raum ausgefüllt. Wie ein blauer Nebel, der immer mehr in Richtung panischer, mittlerweile zu einem großen Menschenhaufen gewordener Leute kroch. Plötzlich herrschte Stille. Kein Weinen, kein Schluchzen. Der Arm ihrer Mutter, welcher sich einige Sekunden zuvor ängstlich und wie eine Würgeschlange um Raes Körper wand, lockerte sich und fiel zu Boden. Schnell sah sie zu Adam, wessen Arm sie immernoch fest umschlang, und bemerkte den ebenfalls paralysierten und scheinbar schlafenden Jungen. "Mommy? Wach auf Mommy! Adam? Jetzt ist keine Schlafenszeit!!" aus dem leisen Wimmern wurde lautes Geschrei. "MOMMY BITTE MOMMY! WACH AUF!"

Keuchend setzte sie sich auf. Nur ein Traum. Sie fuhr sich durch die verschwitztene Haare und seufzte. Nein es war kein Traum, es war das wieder und wiederkehrende Trauma des Anfangs vom Ende der Welt. Wie lang hatte sie tagsüber Adam verdrängt. Was wäre passiert wenn sie ihn gerettet hätte? Diese Spekulationen haben ihr seit 6 Jahren den Schlaf geraubt. Adams schwarze wilde Haarmähne war damals eine perfekte Möglichkeit für sie ihre Flecht-Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Er hatte sich nie gewehrt egal wie sehr sie auch an seinen Haaren ziehen würde, er hätte kein Wort darüber verloren. Das erinnerte sie an die Zeit als sie unbedingt eine Katze sein wollte und sich zusammen mit ihrem besten Freund aus ihren Haaren kleine Katzenohren gebastelt hat.

Der dumpfe Knall des Buches an ihrer Wand ließ sie zurück in die Realität kommen. Ihre zitternde Hand fuhr wieder und wieder durch die dunklen langen Haare. Obwohl Stress mittlerweile zum Alltag gehörte warf ihre Vergangenheit sie immer wieder komplett aus dem Ruder. Das war ihre einzige Schwäche, die sie nicht durch körperliche Kraft oder Waffen beseitigen konnte. Sie durfte nicht in der Vergangenheit schwelgen sondern sich der Realität stellen, wie erbarmungslos sie auch sein mag.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Dec 30, 2019 ⏰

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