Tiefer als das Meer

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Ich bin umgeben von Stille. Endlich Stille.

Keine besorgten Stimmen, die sich ständig nach meinem Wohlergehen erkundigen. Keine kläglichen Worte, deren erfolglose Aufgabe es ist, mich zu trösten. Keine lästigen Fragen, die mich innerlich zerreißen. Fragen über seinen Tod.

All das scheint mir in diesem Moment so fern. Und ich merke, wie ich in meinen Gedanken versinke und allmählich in andere Dimensionen gleite.

Das einzige Geräusch, das ich wahrnehme, ist das eindringliche Rauschen der Wellen. Eine nach der anderen erreicht das Ufer und ihre lange Reise nimmt damit ein Ende. So wie auch seine Reise ein Ende genommen hatte.

Jetzt bin ich allein.

Eine leichte Brise umspielt mein Haar, unbeschwert und frei. Ich wünschte, ich könnte genauso unbeschwert und frei sein. Doch dazu fehlt ein Teil von mir. Er.

Der Duft von Salz zieht an mir vorbei und nimmt meine Gedanken mit sich.

Er hatte das Meer geliebt. Ich erinnere mich an das Funkeln in seinen Augen, wenn er in die endlose Ferne unserer Ozeane blickte. Genauso endlos war meine Liebe zu ihm. Und sie ist es immernoch.

Ich schließe nun meine Augen und atme die klare Nachtluft tief ein. Das erste Mal seit seinem Tod kann ich wieder richtig atmen. Lebend raubte er mir zwar ständig den Atem, doch mit seinem Tod hatte er mir endgültig sämtliche Luft zum Atmen gestohlen.

Ich grabe meine nackten Füße weiter in den kalten, weichen Sand. Er fühlte sich am Strand immer wohl. Der Strand war für ihn wie ein Zuhause. Dort begleitete ihn immer diese tiefe Leidenschaft. Er war ein anderer Mensch, wenn er am Meer sein konnte. Ein wunschlos glücklicher Mensch.

Und was ist er jetzt?

Vielleicht eine einsame Seele, die durch ferne Welten wandert.

Oder vielleicht ist er auch noch hier bei mir, so unscheinbar, dass ihn niemand bemerken kann.

Vielleicht ist sein lebloser Körper auch alles, was von ihm übrig ist. Wer weiß das schon?

Die Menschen kreieren in ihren Köpfen die wahnsinnigsten Dinge, ohne überhaupt den kleinsten Hauch von Gewissheit zu haben.

Wir wissen nicht, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Wir wissen nicht, ob unsere Welt die einzig existierende Welt ist. Wir wissen nicht, ob es einen Gott gibt.

Und trotzdem glauben wir an diese Dinge. Sie lassen uns besser fühlen, geben uns Kraft. Und oftmals sind sie der einzige Anker, wenn wir in einem riesigen Meer der Trauer zu ertrinken drohen.

Er hatte nie Angst vor dem Meer. Oder vor dem Ertrinken. Und wenn ich mir unsicher war an einem windigen Tag, an dem die Wellen sich gefährlich hoch bäumten, als wollten sie uns einschüchtern, dann nahm er meine Hand und zog mich ohne zu Zögern mit sich in das tobende Meer.

Er beschützte mich vor den riesigen Wellen. Er war mein Anker.

Langsam öffne ich meine Augen wieder und habe sofort das Gefühl, wieder in ein tiefes, schwarzes Loch der Einsamkeit zu fallen. Er ist nicht mehr da. Ich habe keinen Anker mehr, an dem ich mich festhalten kann, wenn ich am Ertrinken bin.

Ohne ihn fühle ich mich so leer, so ziellos. Als ob er sämtliche Glückseligkeit mit sich genommen hätte. Wofür bin ich noch am Leben? Mit ihm habe ich den einzigen Grund verloren, für den es sich zu kämpfen gelohnt hätte.

Auf meiner Zunge breitet sich nun der Geschmack von Salz aus. Nicht das Salz des Ozeans direkt vor mir. Es ist das Salz meines kleinen Ozeans, dessen Wellen, angetrieben von dem wütenden Sturm in meinem Inneren, aus mir heraus brechen. Wellen von Tränen fließen meine Wangen hinunter.

Wie gerne würde ich jetzt seine sanften Arme spüren, wie sie mich behutsam festhielten. Wie gerne würde ich jetzt seinen warmen Atem an meinem Hals spüren, während er mir aufbauende Worte ins Ohr hauchte. Wie gerne hätte ich jetzt einen Anker in meinem kleinen, unzähmbaren Meer.

Mein Blick schweift nun über den dunklen Sternenhimmel. Wunderschön und so fern. So fern, wie er. Ich stelle mir vor, wie er dort oben auf einem hellen Stern sitzt und auf mich herab blickt.

Würde er versuchen, mich zu trösten, so wie er es immer getan hatte?

Oder würde er nur stumm da sitzen und dabei zusehen, wie ich innerlich zerbreche?

Meine tränengefüllten Augen wandern nun hinab und wenden sich erneut der Grenzenlosigkeit des Meeres vor mir zu.

Mit der Zeit nehme ich leise, undeutliche Stimmen wahr. Die Wellen scheinen mir zu zuflüstern. Sie werfen Worte in die kühle Nachtluft, die ich nicht verstehen kann. Ihr Flüstern wird immer lauter, immer schärfer, immer verheißungsvoller. Es macht mir Angst.

Plötzlich spüre ich zwei warme Hände auf meinen Schultern liegen. Ich brauche mich nicht umzudrehen, um zu wissen, wessen Hände so behutsam und leicht meine Haut massieren. Langsam streichen sie meine Arme herab und hinterlassen eine feurige Spur der Leidenschaft. Mir läuft ein warmer, wohltuender Schauer über den Rücken und ein Lächeln macht sich auf meinem Gesicht breit. Wie lange hatte ich nicht mehr gelächelt?

Seine Finger suchen sich nun einen Weg zu meinen Fingern und unsere Händen schließen sich umeinander. Sie verschränken sich, sie sind verankert. Endlich habe ich meinen Anker wieder.

Für einen Moment bin ich unbeschwert und frei, wie die salzige Brise, die noch immer durch mein Haar weht.

Für einen Moment vergesse ich all den Schmerz, den ich in den letzten Wochen Tag für Tag ertragen musste.

Für einen Moment habe ich keine Angst mehr vor der unendlichen Tiefe des Ozeans. Ich habe keine Angst mehr vor dem Ertrinken.

Er hat es geschafft. Er hat das unzähmbare, wilde Meer in mir bezwungen. Er hat den starken Sturm der Trauer zu einem angenehmen Wind des Glücks gemacht und die gefährlichen Wellen in leicht schaukelndes Wasser verwandelt.

Er hat in meinem Ozean seinen Anker ausgeworfen.

Ich bin ergriffen von seiner Anwesenheit. Jedes einzelne Haar meines Körpers steht kernzengerade und mein Herz klopft schneller, lauter, intensiver als jemals zuvor.

Doch noch bevor ich mich umdrehen und ein letztes Mal in seine wundervollen Augen blicken kann, ist er fort. Die Wellen ziehen ihn mit sich und tragen ihn weit hinaus auf das offene Meer. Auf das Meer, dass ihn immer glücklich gemacht hatte. Auf das Meer, dass er so oft und so gern besucht hatte. Auf das Meer, dass er immer geliebt hatte. Auf das Meer, dass ihm letztendlich das Leben genommen hatte.

Und ich weiß, er ist für immer fort.

Den Gedanken, mein restlichen Leben ohne verbringen zu müssen, halte ich nicht aus.

Ohne lang darüber nach zu denken, stehe ich auf. Ein letztes Mal nehme ich einen tiefen Atemzug und spüre, wie die frische Luft dieser Welt meine Lungen durchströmt.

Dann laufe ich los, direkt auf das Meer zu. Er hat mir die Angst vor den drohenden Wellen genommen. Und das beweise ich ihm jetzt, als Zeichen meiner grenzenlosen Liebe zu ihm.

Ohne zu Zögern setze ich erst einen Fuß in das kalte, salzige Wasser des Meeres, dann folgt der andere. Schritt für Schritt gleite ich immer weiter und immer tiefer in den Ozean hinein.

Ich spüre, wie die Wellen beginnen, meinen Kopf nach und nach zu überfluten.

Die Schmerzen, die sich nun aufgrund des Sauerstoffmangels in meinem gesamten Körper verteilen, sind nichts im Gegensatz zu den Schmerzen, die ich nach seinem Tod erleiden musste. Und der Gedanke, bald wieder mit ihm vereint zu sein, lässt mich selbst unter Wasser noch Lächeln.

Das Meer ist so hinterlistig, so tückisch, so gefährlich. Es hat mir alles, was ich je geliebt habe, genommen. Und nun nimmt es auch mich und erfüllt mir damit meinen letzten Wunsch.

Meine Liebe zu ihm ist tiefer, als das Meer.

Allmählich merke ich, wie die Wellen sämtliches Leben aus mir ziehen und mich ebenfalls weit hinaus tragen. Ich wandere nun in ferne Welten. Ich bin auf dem Weg zu ihm.

Und dann spüre ich ihn endlich wieder, meinen Anker. Und mit einem breiten Lächeln auf den Lippen stelle ich fest: Dieses Mal wird er für immer bleiben.

Tiefer als das MeerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt