Kapitel 6: Sturm

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Die dicken, alten Glyzinien-Ranken hinabzuklettern erwies sich als anstrengender, als Viktor erwartet hatte. Dass es James trotz seiner geringen Körpergrösse nahezu mühelos zu gelingen schien, während er selbst einen halben Meter über dem Boden den Halt verlor und schmerzhaft auf dem Rasen landete, ärgerte Viktor besonders.

Am Nachmittag und frühen Abend war der Himmel noch klar gewesen, doch mittlerweile hatte der aufgekommene Westwind dichte Wolken aufgetürmt und über dem dunklen Garten lag der eigentümlich-erdige Geruch nach Regen und mischte sich mit dem betäubend süssen Aroma des Oleanders.
Im düsteren Schatten des Hauses nicht mehr ganz so mutig, drängte James seinen Bruder dazu, die Lampe zu entzünden.
„Bist du blöd?", gab dieser schroff zurück. „Am Ende sieht man uns noch und das war's dann!"
Dennoch hatte auch Viktor ein etwas ungutes Gefühl, während die beiden Jungen von Schatten zu Schatten um das Haus herum und an das Ufer des kleinen Baches schlichen.
„Also pass auf. Wir laufen einfach immer den Bach entlang, dann kommen wir fast bis zur Ruine rauf und verirren uns auch nicht", erklärte Viktor - stolz auf die Umsicht, die er in seinen Plan gelegt hatte - während sie dem Wasserlauf den flachen Hügel hinauf bis zum Waldrand folgten.
Erst als sie die ersten Bäume bereits hinter sich gelassen hatten und James bereits zum zweiten Mal über eine Wurzel gestolpert war, beschloss Viktor, dass es nun an der Zeit sei, die Lampe anzuzünden.
Der Wind fuhr mit rasender Tollerei zwischen den Bäumen hindurch, schüttelte das Geäst so heftig, dass hier und da Tannenzapfen herunterfielen und die beiden Jungen es schwer hatten, die Lampe mit den wenigen Streichhölzern, die Viktor mitgebracht hatte, zu entzünden.
Als sie endlich brannte, spendete sie ihnen wenig und nur flackerndes Licht.
Wäre Viktor alleine gewesen, wäre er vielleicht wieder umgekehrt - vor James jedoch wollte er auf keinen Fall zugeben, dass es ihm des Nachts im Wald doch allzu unheimlich war. Also stapfte er tapfer voran, immer bemüht, den Bach im Blick zu halten.
Er war sich sehr schlau vorgekommen, nicht dem schmalen Schotterweg, der von Knightsbridge zur Ruine führte, zu folgen, da dieser einen weiten Bogen auf den Hügel hinauf beschrieb, während der Bach in nahezu direkter Linie von der Ruine nach Willowgarth Hall zu fliessen schien. Anfangs war der Hügel noch sanft, fast unmerklich angestiegen, doch bald ging es steiler und steiler hinauf und das Bachbett nahm immer mehr Biegungen. Auch mussten die Jungen oft kleine Umwege nehmen um alte, üppige Brombeerranken und allzu steile Abhänge zu umgehen. So kam ihnen der Weg alsbald um ein vielfaches länger vor als noch an jenem heissen Tag in der zweiten Woche, da ihr Vater sie auf seine eigene Erkundung mitgenommen hatte.
Das bedrohliche Grollen eines noch fernen Gewitters lag in der Luft, so dass James sich dicht an der Seite seines grossen Bruders hielt.
„Vielleicht sollten wir lieber zurück gehen", meinte er, als es schliesslich zu regnen begann.
„Blödsinn", erwiderte Viktor. „Wir sind doch fast da und es ist nur ein bisschen Wasser. Du bist doch nicht aus Zucker, oder?"
„Nein..."
Trotzdem wäre es James ganz recht gewesen, hätten sie ihr nächtliches Abenteuer nun abgebrochen.

Als die Überreste der Burg schliesslich düster und bedrohlich vor den beiden Jungen aufragten, war aus dem leichten Regenschauer längst ein dichter Vorhang aus Wassertropfen geworden, der sie bis auf die Haut durchnässte.
„Vielleicht sollten wir uns unterstellen und warten, bis es etwas nachlässt...", lenkte Viktor nun ein.

Die Ecke, in der sie Schutz suchten war erstaunlich dunkel, aber trocken und sicher vor dem Wind, der mit kräftigen Böen Falten in den dichten Regenvorhang warf.
Er heulte schaurig um die gezackten Mauerreste, der Donner dröhnte nun nah und ohrenbetäubend und Blitze erleuchteten die Nacht taghell mit zuckendem Licht.
Viktor und James setzten sich dicht zueinander.
„Vicky, mir ist kalt...", jammerte James.
„Mir auch...", gab sein Bruder leise zu.
„Ich möcht' nach Hause, ja?" James' Gesicht sah im fahlen Lampenschein aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Viktor legte einen Arm um ihn.
„In Ordnung", sagte er, insgeheim nicht unglücklich über diese Chance, das Abenteuer frühzeitig zu beenden ohne als Feigling dazustehen. „Sobald es ein bisschen nachlässt..."
Weiter kam Viktor nicht, denn es gab einen grellen Lichtblitz und einen gewaltigen Knall, der ihm das Wort abschnitt und seine Ohren unangenehm klingeln liess.

Madame Héloïses letzte FahrtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt