Eine dicke Schneeflocke fiel auf meine Nase und ich fröstelte. Ich wagte mich nicht, die Hände von meinem Körper zu nehmen, da sie sofort die letzte Wärme verlieren würden, die in ihnen verblieben sind. Durch die Massen an Schnee, die in diesen Sturm fielen, sah ich kaum ein paar Schritte weit. Aber ich machte noch einen Schritt in das Weiße. Schon lange spürte ich die Kälte nicht, meine dünne Hose war zu einem vereisten Panzer kaum drei Zentimeter von den Füßen entfernt geworden und wärmte nicht mehr. Noch ein Schritt. Noch einen. Und noch einen. Ich wusste nicht, wie lange es noch ist, aber ich musste diesen Brief jenem in lila Samtmantel gekleideten Mann übergeben. Mir wurde dafür Geld versprochen. Ein Luxus zu dieser Jahreszeit, wo man einfach über die Runden zu kommen versuchte. Noch einen Schritt. Eine weitere Schneeflocke landete zart auf meiner Stirn. Um mich herum fielen die patzigen Flocken in Massen, aber ich beobachtete sie schon lange nicht mehr, nicht, wie hauchzart sie sind, nicht, welche einmaligen Verzweigungen sie hatten, nicht, wie schnell sie dahinschmolzen. Das war jetzt egal. Ich zog mir meine zu kleine Jacke noch enger an den Körper und wagte, den Kopf ein Stückchen zu heben. Nur weiß. Kein rettendes braun der Häuser des Dorfes, kein gelb-oranges eines Fensters. Nein, nur erbarmungsloses weiß... Noch einen Schritt. Ein Uhu ruft in der Ferne. Ich sehe kleine Spuren, wahrscheinlich von einem Kaninchen, dem es wohl besser geht mit seinem Pelzmantel als mir. So weit das Auge reicht sehe ich nur weiß, mir wird schwindelig davon. Deshalb darf ich nicht aufschauen. Ich habe sogar keine Kraft mehr, mit den Zähnen zu klappern, alles ist eingefroren, meine Bewegungen sind langsam und mechanisch. Noch ein Schritt. Meine Beine geben nach, ich knie auf dem Boden. Die Hände immer noch unter der Jacke versteckt, rapple ich mich irgendwie wieder auf und zwinge mich zu einem weiteren Schritt. Ich weiß nur, dass ich nicht hinfallen, nicht einschlafen darf. Den Brief schützend unter meiner Jacke versteckt, bahne ich mir einen Weg durch den scheinbar nie endenden Schnee, wobei ich eine tiefe Spur hinter mir lasse. Ich höre plötzlich ein Quieken; dann übernimmt die Sturmbö wieder. Ich schaue noch einmal auf und sehe einen Hang mit einem kleinen, verschnörkelten Baum. Meine Beine setzten sich von alleine in Bewegung und ich stolperte zum Hang hinunter. Man konnte ihn kaum erkennen, aber was nicht zu übersehen ist, war der schwarze Haufen am Ende. Mein Herz begann wieder schneller zu schlagen und ich näherte mich dem lumpigen Etwas. Der Schnee begann schon, darüber zu rieseln, aber ich erreichte es und hielt den Atem an. Es war ein Kaninchen! Die vor Kälte fast unbeweglichen Arme streckte ich aus der Jacke und griff nach dem Tier. Es war noch warm, und meine erfrorenen Hände tauten wieder auf. Ich ging zu dem Baum und hockte mich auf die Stelle, wo der Schnee die Erde verschont hat. Nun schaute ich das Kaninchen an. Am Anfang schwarz vorgekommen, war es in Wirklichkeit nur dunkelgrau, bereit, um seine Fellfarbe von weiß auf braun zu wechseln. Da der Winter aber im anfangenden Frühling noch einmal zurückschlug, haben so viele ihr Leben verloren, und unzählige müssen hungern und leiden... Das Tier muss wohl vom Hang gestürzt sein. Vorsichtig hebe ich den Körper zu meinem Ohr und lausche. Zu meinem großen Erstaunen höre ich ein schnelles Klopfen, das Herz schlägt noch. Und obwohl ich selber fast erfriere, stecke ich das halbtote Tier unter meine Jacke, auf meine Haut und versuche es zu wärmen. Keine Sorge. Du bist in Sicherheit.", flüstere ich dem Kaninchen ins Ohr, wobei sich meine Stimme kratzig und doch beruhigend anhört. Ich weiß nicht wieso, aber ich presse das Tierchen noch fester an mich und ich erinnere mich an die Zeit, an der ich meine kleine Schwester genauso gehalten habe und das Leben aus ihr wich. So sitze ich da, mit dem Kaninchen unter der Jacke, ohne Zeitgefühl, wiege hin und her, mit heißen Tränen, die mir die Backe hinunterlaufen und auf dem Hals gefrieren. Auf einmal kippe ich um und lande direkt mit der Nase auf etwas Zartem. Ich öffne meine verklebten Augen und sehe einen kleinen, lila Krokus. Meine Lieblingsblume. Die ankündigt, dass die eisigen Klauen des Winters schwächer wurden und bald die rettende Wärme kommt.Und ich spürte das Kaninchen, dessen Herz anfing, schneller zu schlagen. Wärme durchströmte meinen Körper und ich rappelte mich wieder auf. Das Tier fing an, sich langsam zu bewegen. Der Sturm hatte sich beruhigt und die Wolken bildeten eine kleine Lücke, durch die sich ein kleiner Sonnenstrahl zögernd zeigte. Und da sah ich es: Das Dorf, mit spielenden Kindern in Wolljacken und auf Schlitten, rauchende Schornsteine und Pferde, die Wägen zogen. Ich drehte mich zum Krokus um und flüsterte mit einem Lächeln: Danke..."
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Der Krokus
Short StoryEine kleine Geschichte über ein kleines Menschenkind, das für eine kleine gute Tat ein kleines Stück Hoffnung zurückbekommt. ~Vielen Dank an Jynnia für das coole Cover ^-^~