Ich erinnerte mich wieder an dem Tag, als ich sie zum ersten Mal traf. Wie eine Zecke nistete sie sich seitdem in meinem Kopf ein, ohne Ausgang. Ich dachte an diese Kreatur, dieses Mädchen - so zart wie die Blätter im Oktober. Ich suchte nach ihr, ließ meine Augen wandern, konnte mich nie an ihr sattsehen. Diese Schönheit, die doch so viele Geheimnisse verbarg. Sie besaß diese kalten, traurigen und müden Augen, die so viel verrieten, die so viel sagten, während ihre Lippen stumm blieben.
Ich kannte ihren Namen nicht, absolut nichts von ihr war mir bekannt. Sie war wie das Buch, welches man einst gekauft hatte, ohne es hinterher zu lesen. Hätte ich mich getraut sie an diesem Tag anzusprechen, wäre ich bloß mutiger gewesen - ich hätte jedes einzelne Wort wissen wollen. Hätte den Klang ihrer Stimme erfahren, oder wie sie ihre Lippen bewegt. Wie sie schaut, wenn sie von etwas spricht, was sie liebt. Wie sie mich anschaut. Wäre ich doch nur mutiger gewesen - vielleicht wäre sie heute noch hier.Das Mädchen hieß Riley Adams, 18 Jahre jung und hat eine zierliche Statur von 173 Centimetern. Sie wurde am Dienstag um 06:35 Uhr von einem Zug aus dem Leben gerissen. Selbstmord - so hieß es in der Zeitung. Ich erinnerte mich gut daran, wie sie oftmals viel zu nah an den Zügen stand, wie sie runter zu den kalten Gleisen schaute, wie sie viel zu fokussiert die vorbeifahrenden Züge verfolgte. Wir fuhren oftmals mit dem gleichen Zug. Ich kannte sie, aber ich kannte sie wiederum auch nicht. Hätte ich ihr Vorhaben aufhalten können? Hätte ich ihr beweisen können, dass das Leben lebenswert ist? Oder kann man einem Menschem, der außer dem Tod, keinen Ausweg mehr sieht, überhaupt noch überzeugen? Ich dachte daran, wie sehr sie gelitten haben muss. Wie ihre Augen stumm nach Hilfe schrien. Wie ihre Stille mehr sagte, als es Worte je tun konnten. Ich fühlte mich schuldig, schämte mich, war wütend auf mich selbst. Ich hätte sie retten können. Ich hätte sie kennengelernt, sie auf einen Kaffee eingeladen, ihr gesagt, dass sie das schönste ist, was ich in meinem Leben je gesehen hätte. Sie hätte ihren Kopf geneigt und sicherlich gelacht. Ich hätte sie geküsst und ihr dabei gesagt, dass ich sie bemerkt hatte. Von all den Menschen, denen ich tagtäglich begegneten, war sie die einzige, die ich bemerkte.
Doch sie starb, noch bevor sie mir die kleinste Gelegenheit gab, sie kennenzulernen, ihr all die Dinge zu sagen, sie zu küssen - zu retten.
Ich hatte nie an die Liebe auf den ersten Blick geglaubt. Doch seit ich sie traf, wusste ich, dass sie diese Behauptung bestätigt hatte. Sie war die Liebe, auf den ersten Blick - die Liebe, die mir nie gehörte...
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"Das Mädchen mit den kalten Augen."
RomanceKurzgeschichte über die Liebe und den Kampf gegen Depressionen, Lesprobe: "Ich dachte an diese Kreatur, dieses Mädchen - so zart wie die Blätter im Oktober. Ich suchte nach ihr, ließ meine Augen wandern, konnte mich nie an ihr sattsehen. Diese Schö...