Bis zum letzten Ton

23 3 6
                                    

Ich hörte meine Mutter weinen, während der Pfarrer die Trauerrede hielt. Seine Worte sollten Trost spenden, doch dieses Ziel erreichten sie nicht annähernd. Mit jedem Laut wurde mein Schmerz stärker und stärker und jede einzelne Silbe ließ die Realität deutlicher werden. Ihr Tod war nun so quälend echt, dass ich ihn nicht mehr aus meinem Bewusstsein verdrängen konnte. Ich spürte, wie die unendliche Trauer in mir hoch kroch und durch jede Faser meines Körpers strömte.

Ich saß in der ersten Reihe einer kleinen Kirche auf der Beerdigung meiner großen Schwester Timea. Um mich herum waren sämtliche Menschen am Schluchzen, ich hielt die Hand meiner Mutter neben mir fest umschlossen und vor mir stand ein von Blumen gesäumter Sarg. Ihr Sarg.

Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ihr lebloser Körper darin liegen sollte, wie sämtliches Glänzen der Lebensfreude aus ihren Augen gewichen sein sollte.

Timea war der wundervollste Mensch, den ich kannte und mit ihr ging ein wichtiger Teil von mir. Nun fehlte etwas. Ich war nicht mehr komplett.

Bei wem sollte ich jetzt schlafen, wenn mein eigenes Bett mir nicht genug Schutz bot? Bei wem sollte ich mir nun den Frust über die Liebe, das Leben und andere Probleme von der Seele reden? Wer sollte mir zuhören, mich trösten und wieder aufbauen? Das konnte nur Timea. Und ausrechnet sie war es, die mich nun zerstört hatte. Genauer gesagt, ihr Tod.

Das Leben war verdammt unfair. Mit 17 Jahren ist man zu jung zum Sterben. Meine Schwester hatte noch ihr gesamtes Leben vor sich. Sie steckte voller Träume und Wünsche für ihre Zukunft, die sich jetzt niemals verwirklichen würden. Einige davon hatten wir zusammen geplant. Wir wollten gemeinsam die Welt bereisen. Stundenlang haben wir uns die schönsten Orte unserer Erde ausgemalt.

Jetzt war ich allein. Und das machte mich krank.

Während der Großteil meiner Mitmenschen Wasserfälle weinte, füllte keine einzige Träne meine Augen. Ich war so getroffen, dass ich mich davon taub und kalt fühlte. Ich wollte weinen, wollte all meine Trauer aus mir heraus in der Welt zerstreuen, all den unsäglichen Schmerz loswerden. Doch das war unmöglich. Keine Träne der Welt konnte meine tiefe Trauer verkörpern. Und kein verzweifeltes Schluchzen konnte den Schmerz, den ich verspürte, zum Ausdruck bringen. Also blieb ich still, bedacht darauf, nicht in mich zusammen zu fallen, und wartete auf meinen Einsatz.

Die Zeit schien nicht vergehen zu wollen. Es kam mir vor, wie eine Ewigkeit, bis es soweit war. Ich hörte den Pfarrer meinen Namen sagen und bemerkte, wie mein Körper sich erhob, meine Hand sich vorsichtig von der meiner Mutter löste und meine Beine von alleine los liefen. Ganz langsam tat ich Schritt für Schritt in Richtung des Klaviers direkt neben Timeas Sarg.

Mit weichen Knien erreichte ich den kleinen Hocker hinter dem Klavier und ließ mich nieder. Mit zitternden Händen schlug ich das kleine Notenbuch vor mir auf und suchte das passende Lied, "River flows in You". Das war immer ihr Lied gewesen. Sie hatte es geliebt. Sie meinte immer, die unglaubliche Schönheit dieses Stücks verbunden mit der endlos tiefen Traurigkeit jedes einzelnen Tons berührten sie mitten im Herz. Es schenkte ihr irgendwie Hoffnung. Kurz vor ihrem Tod hörte sie es besonders oft. Ich glaube, sie wusste, dass es nicht mehr lange bis dahin dauern würde.

Seitdem ich meine Schwester zum letzten Mal gesehen hatte, habe das Lied nicht mehr gehört. Mein einziger Versuch es auf dem Klavier zu spielen scheiterte. Ich war unfähig dazu gewesen auch nur eine Taste zu drücken. Wie sollte ich dann jetzt ganze Tastenfolgen spielen? Wie sollte ich die einzelnen Töne zu einem vollständigen Lied zusammen setzen, das sämtliche Erinnerungen an Timea enthielt und mich auf diese Weise zerstörte? Wie sollte ich den Klang dieses tiefgründigen Liedes mit meinen bloßen Händen durch die Kirche hallen lassen? Wie sollte ich mit diesem Klavierstück ein würdiges Andenken an sie schaffen?

Bis zum letzten TonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt