Engel[2]

9 0 0
                                    

Mein Rücken schmerzt. Heiße Sonnenstrahlen brennen auf meinen Rücken, verbrennen mich. Stoßweise entweicht der Atem aus meinen Lungen, Schweißperlen rinnen meinen Körper herunter. Immer weiter, immer mehr, niemals anhalten. Aber ich kann nicht mehr. Langsam richte ich mich auf. Ich bin so steif als wäre ich bereits fünfzehn Jahre alt. Vorsichtig wandert mein Blick über das Feld. Alle haben die Blicke gesenkt, wollen nicht aufblicken. Sie tun, was sie sollen. 

Wo ist Relí? Egal. 

Ich habe solchen Durst. 

Nach einem weiteren vorsichtigen Blick um mich stehle ich mich davon. Niemand wird es merken, wenn ich für einen Moment weg bin. Hinter den Bäumen fließt ein Bach mit herrlich klarem Wasser. 

Erleichtert atme ich auf, als ich endlich davor stehe. Hoffentlich sieht Lárbo mich nicht. Es heißt, er ist gnadenlos, wenn jemand seine Pflicht nicht erfüllt, und sei es nur für wenige Minuten. Als ich meine von Striemen und Blasen übersäten Hände in das herrlich kühle Wasser tauche und die Linderung meiner Schmerzen genieße, erblicke ich aus dem Augenwinkel etwas Weißes. 

Überrascht schaue ich auf. Hier draußen gibt es sonst keine Farben außer Grün und Gelb. Da liegt etwas am Ufer, nur wenige Meter von mir entfernt. Etwas Unreales. Vorsichtig nähere ich mich. Ein weißes Kleid, lange, wellige blonde Haare. Zwei große, federige weiße Flügel. Mein Atem beschleunigt sich. Magie bricht immer wieder aus irgendeinem Außenseiter heraus, wenn er sich nicht mehr unter Kontrolle hat, aber einen Engel hat man hier seit Generationen nicht mehr gesehen. Und dieser hier ist so regungslos. Wären nicht die sich verändernden Lichtreflexe in seinen Haaren gewesen, das Zeichen des Lebens, ich hätte gedacht, der Engel wäre in die nächste Dimension übergegangen. Und er ist verstümmelt, misshandelt. Mehrere kleine Rinnsale Blut fließen seitlich an seinem Gesicht herunter und in seine wunderschönen Haare. Tränen steigen in meine Augen. Wie kann jemand einem so wunderschönen Wesen die Augen ausstechen? Ich muss Relí finden. Es gibt Wichtigeres als die Pflicht. Aber ich spüre etwas in mir aufsteigen. Da ist nicht nur Mitleid in mir. Da ist ein Wille, ein böser Wille. Zu besitzen. Ich habe so gut wie kein Eigentum, warum nicht diesen Engel zu etwas machen, das nur mir gehört? 

Schon im Weggehen drehe ich mich noch einmal um. Vielleicht muss Relí gar nichts hier von erfahren. Oder zumindest nicht jetzt sofort. Ich löse den Gürtel von meinen Kleidern. Er ist das einzige, was verhindert, dass mir meine Kleidung den Körper herunter rutscht, aber das ist mir jetzt egal. Ich binde dem Engel die Handgelenke zusammen, auch wenn es mich schmerzt, dieses wunderschöne Wesen noch mehr zu verschandeln.

Dann nehme ich ihn auf die Schultern. Er ist erstaunlich leicht, als wäre er nur Lust, er wiegt kaum mehr als die schweren Werkzeuge, die ich sonst auf meinem gebeugten Rücken trage. 

Ich frage mich, was Lárbo sagen würde, könnte er mich jetzt sehen. Ob er Angst hätte? Wahrscheinlich nicht, wahrscheinlich würde er den Engel für sich beanspruchen und mich... ich habe keine Ahnung, was er mit mir tun würde, und ich will es mir auch nicht wirklich ausmalen. 

Ich schaffe es, an dem Feld vorbei zu kommen, ohne, dass mich jemand sieht. Der Engel blutet noch immer, ich spüre, wie ein Blutstropfen wie eine rote Träne an meinem Hals hinunter läuft. „Bring es weg!“

Wie von einem Blitz getroffen erstarre ich. Mein Herz schlägt wie wild, mein Atem beschleunigt sich. Ich sehe aus den Augenwinkeln, wie die Lichtreflexe in meinen Haaren schneller zu wirbeln beginnen. Unendlich langsam drehe ich mich herum. Chigu steht vor mir. Seine Haare hängen bis zu seiner Brust herab, aber der Stock, auf de er sich normalerweise stützt, fehlt. Der alte Mann scheint ihn nicht einmal zu brauchen. „Bring es weg.“, wiederholt er eindringlich, seine schwarzen Augen fest auf mein Gesicht gerichtet. „Diese Geschöpfe sind böse. Du solltest niemals einem Engel vertrauen, Kind.“

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Dieser unergründliche Blick jagt mir eine Gänsehaut über den Rücken. „Aber er ist verletzt.“, sage ich schließlich lahm.

Er geht nicht darauf ein. „Das ist gefährlich. Dieses Wesen ist ein Geschöpf der Bösen Mächte.“

„Nein!“ Aus irgendeinem unerfindlichen Grund treten Tränen in meine Augen. „Und wenn doch, jetzt ist er mein.“

Ich sehe ein böses Funkeln in Chigus Augen treten, doch da habe ich mich schon abgewandt und gehe weiter den Weg entlang. Ohne weitere unliebsame Begegnungen komme ich zuhause an. Zuhause, das ist eine kleine hölzerne Hütte, provisorisch zusammen gebaut. Natürlich ist niemand da, jeder geht noch seinen Pflichten nach. Wie immer habe ich keine Gewissheit, ob sie je wieder kommen werden. Die Gesetze und die Natur sind gnadenlos. So sanft wie möglich lege ich den Engel auf den Boden. Er sieht so wunderschön aus, so verletzlich. Ich kann nicht anders und löse seine Fesseln. Nie werde ich sagen können, wie lange ich ihn angestarrt habe, als lautes Geschrei von draußen herein dringt. Entsetzt renne ich aus der Tür und stelle mich schützend davor. Ein riesiger Mob stürmt auf mich zu, in ihrer Mitte Chigu. Sie tragen Fackeln. „Nein!“

Ich stürze zurück in das Haus. Der Engel liegt noch immer auf dem Boden, doch er blutet nicht mehr. Vielleicht geht es ihm besser. Dann pocht jemand an die Tür. „Das hat doch keinen Sinn. Wir müssen dieses Geschöpf los werden, sonst wird es das ganze Dorf zerstören!“ Ich antworte nicht, auch wenn ich natürlich weiß, dass sie wissen, dass ich hier bin. Schon wird die Tür eingetreten. Jemand stürmt herein. Ich werde um die Hüfte gepackt und heraus gezerrt. Es ist Relí. Schreie, so wütend, so verzweifelt. Nein nein nein. Was werden sie ihm antun? 

Und doch kann ich nichts tun, als das Haus in Flammen aufgeht. Nein nein nein. Was haben sie nur getan? Der Engel hatte nie irgendjemandem etwas angetan. Das Feuer spiegelt sich in den Augen der Mörder. 

Aber plötzlich verändert sich etwas. Die Flammen brüllen nicht mehr so laut, sie scheinen mehr zu wispern. Dann steigt eine leuchtende Lichtgestalt aus den Trümmern meines Zuhauses auf. Sie leuchtet so weiß, so gut. Doch die Menschen um mich herum scheinen sie nicht zu sehen, sie ist nur für mich präsent. Und sie kommt auf mich zu. Es ist der Engel, nicht mehr blutig, und er hat strahlende Augen. Ich recke mich ihm entgegen, er sieht nicht böse aus, das ist kein Geschöpf der Bösen Mächte, er kann es nicht sein. „Nimm mich mit“, bettele ich. 

„Das geht nicht.“ Seine Stimme ist dunkel, und so sanft. „Du gehörst nicht in meine und ich nicht in deine Welt.“ 

„Also bist du wirklich ein böses Wesen?“ Ich kann seine Gesichtszüge nicht erkennen, er verschwimmt langsam und wird transparent. Wie durch einen Nebel höre ich noch die Worte: „Nein, ich bin weder böse noch gut. Ich gehöre nicht eurer Welt an, ich kann auch nicht in eure Werte eingeordnet werden. Der Grund, warum ich als böse gelte, ist folgender: Die Menschen fürchten sich vor mir. Und was sie fürchten, das wollen sie zerstören, nicht verstehen. Das ist der Grund, warum die für euch Magische in eurer Welt keine Heimat mehr hat und ihr die Magier verbannt.“

Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: Dec 04, 2013 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

Engel[2]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt