An unserer Straße gibt es eine Ampel. Sie steht dort schon so lange und sie hat schon so viel überstanden, schon so vielen Stürmen standgehalten, schon so viele Winter überlebt, schon so viel Rost abbekommen, dass ihre Narben sie nicht mehr hervorheben, sondern schwächen. Hat sie schonmal jemand in den Arm genommen?
Nein.
Denn Ampeln umarmt man nicht.Ihr einst leuchtend orangener Knopf ist jetzt uringelb und ihre Lampen gehen andauernd kaputt.
Das Glas der Lampen ist zersprungen und die sanfte Bestätigung des Lichtes, das alles seinen gewohnten Lauf nimmt - rot, orange, grün -, ist seit Jahren verschwunden.
Einige Leute aus unserem Stadtrat wollten sie durch eine neuere Ampel ersetzen.
Der Zebrastreifen unter ihr ist nur noch mit Mühe zu erkennen, und der Asphalt, auf dem sie steht, ist rissiger als an jeder anderen Stelle.
Die Tickfunktion für Blinde ist seit Tagen im Eimer und das Metall der früher so verlässlichen Streben ist angelaufen und eiskalt.
Keiner bleibt mehr stehen, wenn sie an der Ampel die Straße überqueren, denn sie fällt so wie so andauernd aus.
Niemand verlässt sich mehr auf ihren Dienst an der befahrenen Kreuzung, ganz in der Nähe unserer Siedlung.
Alle gehen an ihr vorbei, doch keiner nimmt sie wirklich wahr.
Was würde die Ampel dir erzählen, wenn sie sprechen würde?
Geschichten von Unfällen, Verletzungen.
Hochzeitsautos, die mit frisch verheirateten Paaren an ihr anhielten, Liebe.
Das gleiche Paar, das zehn Jahre später mit Abstand voneinander über die Kreuzung geht, und bei dem jeder sieht, das es mit ihrem Glück zu Ende geht, Verachtung.
Und vielleicht kann die Ampel ja sprechen, nur schweigt sie, weil sie darauf wartet, das jemand auf sie zukommt und sie in die Arme nimmt und wissen will, was mit ihr los ist.
Aber keiner würde eine alte, rostige Ampel umarmen und sie fragen, was mit ihr los ist.
Denn Ampeln umarmt man nicht.Und doch gibt es viel zu viele rostige, kaputte Ampeln, die nichts nötiger hätten als Liebe, Freundschaft und Akzeptanz.
Wir sehen sie jeden Tag, und doch schweigen wir alle, sobald wir in ihre Nähe kommen.
Keiner umarmt sie.
Denn Ampeln umarmt man nicht.Aber was, wenn ich jetzt dorthin gehe, an die befahrene Kreuzung mit der Ampel, die schon so viel Schmerz hinter sich hat, das sie aufgeben will und ihre Hand nehme und sie umarme und ihr sage, das alles gut ist und das ich für sie da bin?
Aber das tue ich fast nie.
Denn eins habe auch ich gelernt.Ampeln umarmt man nicht.
a/n: der text ist zu 1oo% metaphorisch gemeint und an meiner straße steht keine ampel.
feedback wär fab. :3
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texte
PoetryPhilosophisch und tiefsinnig und manchmal ziemlich dämlich, but who cares.