Kapitel 1 - eine schicksalhafte Begegnung

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Zeit. Zeit ist das, was uns altern lässt und uns am Leben erhält. Unsere Zeit auf dieser Welt ist begrenzt. Sie verrinnt zu Beginn langsam, bis sie schließlich an Tempo gewinnt und dann, wie ein Lufthauch an uns vorbei weht.
Zeit ist das, was für uns alltäglich ist.  Eben deshalb rückt sie für die meisten von uns in den Hintergrund und wird nebensächlich. Dabei ist gerade sie der Grund, weshalb wir jeden Moment den wir haben genießen sollten, denn Zeit ist nicht endlos.

Zeit, dachte ich abwesend und kaute auf dem Ende meines Bleistiftes herum. Wenn sie wirklich so wichtig war, weshalb musste ich sie dann weitere fünf Stunden hier absitzen?
Mit hier meinte ich die Schule. Es war der letzte Tag vor den Sommerferien. Direkt hinter dem Lehrerpult stand meine Klassenlehrerin Frau Krum und wiederholte noch einmal alle "Höhepunkte" des Jahres. Tatsächlich schienen diese auszureichen um die Minuten zwischen der Zeugnisübergabe und dem letzten Klingeln zu füllen. Aber warum musste man eben dies so hinauszögern. Wäre es nicht sinnvoller sie uns schlichtweg zu überreichen und in die Ferien zu schicken? Niemand, aber auch wirklich niemand interessierte das Geschwätz aus der Vergangenheit noch.
Wobei ich glaubte, dass nicht bloß wir Schüler endlich aus dem engen Klassenraum entfliehen wollten. Wenn die Lehrer ehrlich waren, sehnten auch sie sich danach in die Sonne treten und zum ersten Mal nach den Prüfungen wieder durchatmen zu können.
Also warum schickte man uns nicht einfach fort und ließ uns die freie Zeit, die wir noch besaßen, genießen?   
"Wie lange noch", beugte ich mich somit zum mindestens dreißigsten Mal in dieser Stunde zu meiner Banknachbarin und besten Freundin Rika hinüber. Wie üblich rollte sie mit den Augen, schaute mich genervt an und blickte schließlich doch auf ihre Armbanduhr.
"Noch fünfzehn Minuten", lautete die darauffolgende Antwort.
Ich rutschte tiefer in meinem Stuhl. Fünfzehn Minuten. Viel zu lange, um es in diesem stickigen Schulgebäude weiterhin aushalten zu können.  "Ich kann nicht mehr."
"Reiß' dich zusammen!", befahl mir Rika streng, aber dann legte sich dieses verständnisvolle und zugleich freche Lächeln auf ihre Lippen. "Ich hab auch die Schnauze voll."
Nun huschte auch über meinen Mund ein Schmunzeln. Wusste ich es doch! Rika war nicht bloß meine beste Freundin, weil wir uns schon seit Ewigkeiten kannten, oder sie ähnlich gestrickt war wie ich - Nein, sie war es, weil sie meine Gedanken, wie keine Zweite nachvollziehen konnte und meine Gefühle beinahe so gut, wie ihre eigenen verstand. 
Ich gab ihr einen freundschaftlichen Knuff, woraufhin sie meine Hand ergriff. "Wir stehen das gemeinsam durch und dann bist du bald bei deiner Grandma." 
Ach ja, meine Grandma. Schon in meiner Kindheit hatte ich viel Zeit bei ihr verbracht, da meine Eltern oft unterwegs waren. Ich nahm es ihnen nicht übel, dass sie so häufig arbeiten mussten und mich deshalb alleine ließen, immerhin war ja meine Großmutter für mich da. Durch ihre Anwesenheit war ich nie allein und fühlte mich immer umsorgt.
Erst als wir weiter weg zogen und die Entfernung zu groß wurde, um sie täglich zu sehen, fiel mir auf, wie sehr sie mir in meinem Leben fehlte. 
Unser Umzug war vor fünf Jahren kurz nach meinem 11. Geburtstag gewesen. Seitdem besuchte ich sie ohne eine Ausnahme in all meinen Ferien für eine oder auch zwei Wochen. Und ich genoss jede Sekunde, die ich in ihrer Nähe verbringen konnte. Jeden Augenblick, indem wir auf der alten Hollywoodschaukel in ihrem Garten saßen und dem leisen Spiel des Regens lauschten.
"Den ganzen Sommer", murmelte ich verträumt vor mich her. Dieses Mal würde ich von Anfang, bis zum Ende meiner Sommerferien bei ihr bleiben können, da meine Eltern ebenfalls geschäftlich unterwegs waren. "Der Himmel."
"Ylvi Salverson, hör endlich auf zu Träumen", riss mich die eindringliche Stimme von Frau Krum aus meinen Gedanken. Wie lange war ich weg gewesen? Wie oft hatte sie mich schon aufgerufen?
Wohl oft genug, um alle Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Ausnahmslos alle Blicke meiner Mitschüler waren auf mich gerichtet. Oh man, stöhnte ich innerlich auf.
"Na, jetzt hol dir endlich dein Zeugnis ab!", forderte mich meine Lehrerin zunehmend gereizter auf. Wieder zuckte ich zusammen. Mist! Hastig sprang ich auf und ging nach vorn, um mir das bedruckte Blatt, welches so wichtig für meine Zukunft war, abzuholen. Ebenso schnell, wie ich vorn stand, lief ich auch wieder zurück zu meinem Platz. Bloß noch sieben Minuten.

Zusammen mit dem ersten Glockenschlag erhob ich mich. Endlich! Die Schulzeit war vorbei. Schneller, als es sonst für mich üblich war, stopfte ich meine Sachen in den Rucksack und warf ihn mir über die Schulter. 
"Na, da hat es wohl jemand eilig", kicherte Lia eine Reihe vor mir und stemmte die Hüften in die Hände. Ich ahnte, was sie von mir erwartete. Aber wie hätte ich das auch vergessen können. Grinsend beugte ich mich über den Tisch und umarmte sie fest. 
"Richte deiner Grandma 'nen lieben Gruß aus", trug sie mir, nachdem wir uns wieder voneinander gelöst hatten, auf. 
Ich nickte: "Klar, doch. Sie freut sich bestimmt!"
Mit diesen Worten wandte ich mich zu Rika um, welche inzwischen ebenfalls ihre Habseligkeiten verstaut hatte und hakte mich bei ihr unter. "Los, ab in die Freiheit!"
Wie zwei kleine Mädchen stürmten wir auf den Hauptausgang zu und traten ins Freie. Sofort begrüßte uns ein herrlich blauer Himmel und Sonnenstrahlen kitzelten über mein Gesicht. Herrlich! Obgleich ich im Herbst geboren wurde, liebte ich den Sommer mit all seine Hitze ebenso sehr wie den Winter und den damit verbunden Schneefall. 
Seite an Seite gingen Rika und ich unseren gewöhnlichen Schulweg ab, der sich erst an einer fünfhundert Meter entfernten Weggabelung trennte. Wie auch bei Lia verabschiedete ich meine beste Freundin mit einer festen Umarmung, während sie mir ein Küsschen auf die Wange gab. Durch meinen Besuch bei Grandma würden wir uns erst nach den Ferien wiedersehen. Zwar blieb uns immer noch Skype oder eine Zugfahrt, aber trotzdem würde ich sie vermissen.
"Mach nicht allzu viel Blödsinn", neckte mich Rika schon einige Schritte von mir entfernt und streckte mir die Zunge heraus.
"Das musst du gerade sagen", konterte ich und erntete dafür einen bösen Blick. Lächeln rollte ich mit den Augen. Sie war so eine Dramaqueen. Um eben diesen Titel alle Ehre zu machen, warf sie nun auch noch ihre dunkelrote Mähne zurück und sagte: "Du mich auch."
"Ich hab' dich auch lieb, Teufelchen", gluckste ich und wusste genau, dass ich sie damit hatte. Sie mochte es, wenn man sie als böses Mädchen bezeichnete, selbst wenn sie in Wahrheit eine gute Seele war. 
Wie erwartete sprang sie darauf an: "Ich dich mehr, kleiner Engel!" Ehe ich ihr Widersprechen konnte, rannte sie auch schon voller Elan davon.
So eine Wilde, kicherte ich innerlich über ihr Verhalten und schlug nun ebenfalls meinen Weg ein. Er führte mich anfangs eine ganze Weile durch die Stadt, ehe er an einem Park mündete. Diesen Teil mochte ich am meisten. Anders als die meisten Gebiete verlieh diese Anlage der Stadt etwas wilde Natur, die sonst fehlte. Weder die Bete, noch die Wege waren sorgfältig in eine vorgegebenen Ordnung angelegt wurden. Es wucherten mal hier, mal dort bunte Blumen. Um an den dicken Bäumen vorbei zu gelangen, musste man den verschlungenen Pfaden - vorbei an ihren Wurzeln - folgen. 
Es sollte ja Menschen geben, die eben dieses wilde, unberührte als unheimlich empfand, aber ich gehörte nicht dazu. Vielleicht lag es in meinen Genen, aber ich war schon immer ein Naturliebhaber gewesen. Somit genoss ich jeden Moment, welchen ich draußen im Grünen verbringen konnte. Dadurch bekam ich einfach den Kopf frei und konnte mich besser konzentrieren. Womöglich liebte ich es auch deshalb so sehr bei meiner Grandma zu sein. Sie ließ mich nicht nur mein Umfeld, also auch ihren Garten, umgestalten, sondern empfand ebenso wie ich diese Hingabe zu unserer Erde. 
Bei dem Gedanken an sie und meine baldige Abreise legte ich einen Zahn zu und stimmte leise ein  nordisches Lied an. Einst hatte es mich meine Großmutter gelehrt, die es aus ihrer alten Heimat mitgebracht hatte. Noch bevor ich sprechen konnte, kannte ich dieses Lied. Zumindest kam es mir so vor, denn es war tief in meinem Inneren verankert. Immer wenn es mir nicht gut ging, sang ich es und es brachte mir meine Ruhe zurück. 
"Eine schöne Melodie", vernahm ich auf einmal eine samtene weiche Stimme direkt vor mir. Ich schrak zusammen und riss hastig den Kopf hoch.
Nicht einmal fünf Schritte von mir entfernt stand eine große Frau. Das Erste, was mir an ihr auffiel, war das viele schwarz. Von ihren ledernen Absatzstiefeln, bis hin zu ihren kurzen schwarzen Haaren wirkte alles an ihr düster. 
Verunsichert von ihrer Gestalt verharrte ich regungslos. "Ähm danke, glaube ich."
Ohne meinen misstrauischen Blick zu würdigen, kam sie auf mich zu. Mit jeden Schritt den sie tat, verringerte sie die Distanz zwischen uns, sodass sie schon bald vor mir stand. 
"Nordisch?", kam daraufhin eine Frage von ihr. 
Da ich erst nicht verstand, worauf sie damit anspielte, konnte ich zu Beginn darauf nicht reagieren. Aber sobald ich darüber nachdachte, dass sie das Lied meinen konnte nickte ich. "Ja."
Unvermittelte klopfte sie mir auf die Schulter und lehnte sich zu mir herab, sodass sie mir ins Ohr flüstern konnte: "Ich wünsche dir alles Glück der Welt."
Mit diesen Worten tippte sie mir auf die Stirn und verschwand von meiner Seite.
"W-Was?!" Ich fuhr herum. Sie war nicht mehr zu sehen. Was hatte das denn zu bedeuten? Argwöhnisch fuhr ich mir mit der Hand über die Stirn, welche seltsam kribbelte. Merkwürdig. 

Valkyria (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt