Weit entfernt hörte sie die Glocken der Kirche ihres Heimatdorfes leuten. Ihr Klang erinnerte sie daran, dass sie noch bei vollstem Bewusstsein war. Doch wann war es soweit ? Woran würde sie es merken ? Wann kam endlich die Erlösung, die sie sich so lange schon herbeisehnte? Fragen über fragen schwirrten in ihrem Kopf herum. Während dieses quälend langen Augenblicks zwischen Bewusstsein und dem Eintritt ins Jenseits, zogen die Bilder der letzten Monate ihres Lebens vor ihrem inneren Auge an ihr vorbei.
Man sagt immer, die wichtigsten und schönsten Momente im Leben eines Menschen spiegeln sich kurz vor seinem Tod wieder, doch nun merkte sie, dass es nicht so war. Sie fühlte nur den Schmerz und die Erniedrigung, die sie die letzten Wochen hatte durchmachen müssen. Und dann war da diese Monotonie..
Alles an ihr, vom Haaransatz an bis zu ihren Reaktionen, ihr Blick und ihr Gang, alles war gleich. Sie hatte im Laufe ihres jämmerlichen Lebens gelernt, auch nur kleinste emotionale Regungen zu unterdrücken. Niemand sollte mehr mitbekommen, wie es ihr ging oder was sie fühlte. Sie war allein. Und das war auch gut so. Sie fragte sich, wer sie finden würde, wenn es so weit war. Ihre Eltern, die sie nie geliebt hatten, die sie stets enttäuscht hatte und die sich wichtigeren Dingen hingaben, als die Probleme ihrer Tochter ? Ihre Geschwister, die sie hassten und verachteten und es ihr zeigten, wann immer sie die Gelegenheit bekamen ? Oder doch eine völlig unbeteiligte Person, die von der Straße mit neugierigen Blicken auf ihren Balkon heraufsehen würde ?
Ihr war es völlig gleich. Es war ihr alles egal geworden. Der Gedanke an diejenigen, die sich von ihr abwandten weil es Menschen mit einem weitaus einfacheren Charakter gibt lösten ihren angespannten Kiefer und ihre Mundwinkel zuckten nach oben. „Wer auch immer glaubt, dass leben Spaß machen kann, wird den Gedanken schon bald bitter bereuen", flüsterte sie und eine Träne lief über ihre Wangen.
Sie nahm ihr Handy, das neben ihr auf dem Boden lag, in die Hand und schaute auf die Uhr. Eine Minute war vergangen, seit sie die Medikamente genommen hatte. Wann war es endlich soweit ?
Plötzlich vibrierte ihr Handy und ein Nachrichtenfenster öffnete sich. Es war Tyler. Der Mann, den sie über alles liebte und der sie so sehr verletzt hatte. Er hatte sie belogen und an der Nase herum geführt, ihr leere Versprechen gegeben und sie somit zum Gespött gemacht. Sie hasste ihn so sehr.. nein, sie hasste sich selbst. Sie hasste sich dafür, dass sie ihm vertraut hatte. Er hatte ihr einen Text geschrieben, in dem er sich für alles entschuldigte was er ihr angetan hatte und ihr versprach, er wolle all seine Versprechen wahr werden lassen. Er liebte sie mehr als alles andere auf der Welt.
Sie war nie ein Mensch großer Reden, also legte sie ihren Daumen auf das Tonaufnahmesymbol und flüsterte: „mach dir keine Mühe. In einer Minute ist all das hier vorbei. Ich danke dir dafür, dass du mir diesen Entschluss so leicht gemacht hast. Ich hasse dich."
Trotz tränenüberströmtem Gesicht entfuhr ihr bei diesem letzten Satz ein kichern. Es war ihr egal, was er jetzt über sie dachte, ob er sie wirklich liebte oder ob er nur so tat. Mit schallendem Gelächter warf sie ihr Handy durch die Lücken zwischen den Stahlelementen der Brüstung ihres Balkons auf den Boden. Sie lachte und weinte gleichzeitig, einfach weil seine Handlungen ihr so unglaublich wehtaten und gleichzeitig diese Situation so absurd schien, dass sie nicht anders konnte.
Langsam wurde ihr schwummrig und sie hörte auf zu weinen. Ihre Gedanken waren leer und sie freute sich darüber. Endlich. Die lang ersehnte stille.
Sie lehnte sich zurück, sodass sie nun rücklings auf dem Boden Ihres Balkons lag, schloss die Augen und wartete.
Lächelnd empfing sie ihn. Sie schlief ein. Und mit einer kalten Umarmung riss er sie aus ihrem Leben.
„Hallo Tod, hier bin ich."Alina Knopp, Oktober 2016