Hector

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Blitzartig wacht er auf. Hatte er sich das Geräusch nur eingebildet? Angestrengt lauscht er in die Dunkelheit hinein. Der Lauf des M16-Sturmgewehrs in seinen Händen folgt jeder seiner Bewegungen. Ein Schweißtropfen rinnt sein Gesicht mit den stahlharten braunen Augen herab. Hector ignoriert den Drang ihn wegzuwischen. Sein Atem geht flach. Die Muskeln angespannt. Wie ein Panther kurz vorm Sprung auf seine Beute, lauert er. Aber es bleibt still in dem riesigen Haus, in dem er sich einquartiert hat. Die vormaligen Bewohner befinden sich im Wohnzimmer. Jeder mit einem Einschussloch im Schädel. Er hatte sie getötet und es sich dann im Schlafzimmer gemütlich gemacht.

„Wie ich es hasse, wenn niemand Wache steht", flucht er leise vor sich hin. Die Tür, der einzige Zugang zum Zimmer hat er mit dem massiven Sideboard blockiert um böse Überraschungen zu vermeiden. Da es weiterhin ruhig bleibt, wischt er den lästigen Schweißtropfen beiseite. Er sichert das Gewehr und stellt es wieder neben das Bett. Die Vorhänge an dem großen Fenster sind zugezogen. Nur das fahle Mondlicht wirft einen schmalen Streifen unter ihnen hindurch. „Es hat sich so schnell verändert", seufzt er und zieht die Vorhänge ein Stück auf. Das sich ihm bietende Bild ist er bereits gewöhnt: Eine brennende Stadt.

Über die Bostoner Straßen wandern Gestalten, die im Licht der Feuer lange Schatten werfen. Es scheinen unzählige zu sein. Mit einer Hand reibt sich Hector den Nacken. „Das wird ein langer Weg aus der Stadt heraus", murmelt er zu sich. Niemand wird kommen und ihn retten. Niemand wird kommen um die Feuer zu löschen. Ganze Häuserblöcke werden den Feuern noch zum Opfer fallen. Ein Gutes hat es jedoch. Die Untoten werden vom Licht angezogen. Sie laufen direkt in die alles versengende Hitze und sterben.

In nur wenigen Wochen hat sich das Antlitz der Erde gewandelt. Wo zuvor noch hektische Menschen durch die Straßen eilten, befinden sich nun Untote. Sehnsüchtig wirft Hector einen Blick auf die Schachtel Zigaretten auf dem Bett. Es sind nur noch fünf übrig. Wie gern würde er jetzt Eine rauchen. Einfach etwas abschalten und sich nur auf den kleinen Glimmstängel konzentrieren. Mühsam verdrängt er den Wunsch und blickt wieder aus dem Fenster. Die letzten fünf Zigaretten wird er sich aufheben, falls das Verlangen zu groß wird, oder er Nachschub aufspüren könnte.

Im Osten schieben sich bereits die ersten Anzeichen der Dämmerung den Horizont hinauf. Bei seinem früheren Job, als Pilot der US Air Force musste Hector öfter mit wenig Schlaf auskommen. Das und seine körperliche Fitness kommen dem Latino in diesen Zeiten zu Gute. Wer schwach, langsam, verletzt oder einfach nur übermüdet ist, kann sehr schnell den Zombies zum Opfer fallen. Vor allem in den ersten Wochen sah Hector beinahe täglich Menschen sterben. Sie wurden zu Boden gerissen, wo sich die Angreifer dann genüsslich über ihre schreiende Beute hermachten. Allein bei dem Gedanken daran, wie sich kalte Hände durch seine Bauchdecke drücken um seine warmen inneren Organe herauszureißen, wird Hector ganz mulmig. „Niemals ...", flüstert er und tastet nach seiner „Todesversicherung", wie er die Handgranate gern nennt. Diese hat er bei seiner Flucht vom Luftwaffenstützpunkt mitgehen lassen. Nebst dem M16 zu seiner rechten, einigen Notrationen, einem Rucksack und vierhundert Schuss Munition für das Gewehr. Seine 9mm-Beretta befindet sich im Waffenholster an seinem Gürtel. Für die kleine Faustfeuerwaffe hat er noch hundertzehn Schuss. Solange es möglich ist, verzichtet Hector jedoch auf den Einsatz der Schusswaffen.

Die ersten Fenster des Hochhauses gegenüber seinem Zimmer werden bereits ins Licht des neuen Tages getaucht. Hector beschließt, seinen Plan nun in die Tat umzusetzen. Er muss Boston verlassen um weniger dicht bevölkerte Regionen zu erreichen. Viele Menschen bedeuten auch viele Untote, die wiederrum Jagd auf die Lebenden machen. Mit geübter Bewegung schnappt er sich den Rucksack, schwingt ihn auf den Rücken und prüft das Magazin und den Lademechanismus des M16-Sturmgewehrs. Eine Ladehemmung wäre das Letzte, was er in einer brenzligen Situation gebrauchen kann. Zur Sicherheit klopft er das längliche Magazin des Gewehrs auf den dunkelbraunen Holznachtisch, damit sich die Patronen freier bewegen können. Anschließend lässt er es wieder einrasten und lädt das M16 durch. „Einsatzbereit", stellt Hector zufrieden fest. Unter Kraftanstrengung schiebt er das Sideboard beiseite. Das laute Quietschen, als Holz über Holz rutscht lässt ihn zusammenzucken. Der Krach wurde mit Sicherheit gehört. „Nun aber flott", ermahnt er sich selbst. Vorsichtig öffnet er die Tür einen Spalt. Der dunkle Flur mit den Familienfotos taucht vor ihm auf. Kein Untoter belagert die Tür. Erleichtert seufzt Hector auf.

Rising Death - Short StoriesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt