Ein voller Papierkorb

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  Ausmisten. Ordnung machen. Platz für Neues schaffen.

Es klingt so einfach, doch kann so schwer sein.
Wieso ist es so schwer, diese Sachen zu entfernen? Sie in die Tonne zu werfen und Platz für Neues zu schaffen?
Weil sie ihm gehört haben.
Ihm, meiner große Liebe, die mich vor dem Altar stehen gelassen hat.
Meine Freunde sagen mir, ich solle loslassen. Ihn vergessen. Jemanden neuen zulassen.
Doch es ist so schwer.
Es fühlt sich an, als würde mir jemand ein Stück meines Herzens rausreißen. Klingt vielleicht dramatisch, aber so fühlt es sich halt an!
Ich sitze auf dem Boden meine Vergangenheit mit ihm um mich herum ausgebreitet.

Ich greife nach der ersten Kiste und finde einen Stapel Fotos.
Ich beachte das Foto in meiner Hand. Wir sehen so glücklich aus, wie wir eng umschlungen in eine Decke auf dem Sofa sitzen. Die grüne Decke hatte seine Mutter mir geschenkt. Sie sagte, sie sei so grün wie die Augen des Mädchens, von dem er immer erzählt hat, als er ein kleiner Junge war.
Meine Augen.
Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und knülle es in meiner Faust zu einer kleinen Kugel. Neben mir steht ein Papierkorb. Noch ist er leer.
Ich greife nach dem nächsten Bild. Wir beide am Strand. Wir sind 17 und sitzen auf seinem Handtuch und essen gerade ein Eis, welches er vom Stand geklaut hatte.
Es landet im Papierkorb.
Das nächste Bild. Wir beide am Lagerfeuer wie, wir uns mit Marshmellows im Mund küssen.
Weg.
Wir beide auf einer Party mit merkwürdigen pinken Cocktails in der Hand, von den er unbedingt wollte, dass ich es probiere. Es schmeckte scheußlich, aber wir haben so gelacht.
Weg.
Ich, wie ich huckepack auf seinem Rücken sitze und ihm einen Kuss auf die Haare gebe.
Weg.
Wir beide beim Poker spielen und Gummibärchen auf dem Tisch als Pokerchips.
Weg.
Wir beide auf den Greenday-Konzert bei unserem Einjährigen.
Weg.
Ich im Garten umgeben von Blumen, während ich in die Kamera winke. Ihm zuwinke.
Weg.
Wir in einem Fotoautomaten wie wir Grimassen in die Kamera schneiden.
Weg.
Ich in einem viel zu großen Pulli, der ihm gehört. Meine Haare fallen aus dem Zopf und ich habe Augenringe, aber ich sehe so glücklich aus, wie ich den Verlobungsring betrachte.
Weg.
Wir beide auf dem Bett in der ersten Nacht in unserer gemeinsamen Wohnung. Ich lächle in die Kamera und kuschle mich an ihn, während er mit einem verliebten Blick mich ansieht.
Tränen tropfen mir von meiner Wange auf das Bild. Meine Hand zittert, als ich es in zwei hälften zerreiße.
Es ist so schwer, loszulassen.
Ich kann mir nicht noch die anderen Bilder ansehen. Das schaffe ich nicht. Ich zerbreche.
Ich weiß noch, wie er mich immer sein starkes Mädchen genannt hat. Wo ist diese Stärke geblieben? Was ist aus mir geworden?
Ich packe die Schachtel mit den restlichen Fotos und schmeiße alles in die Tonne neben mir.

Ausmisten. Ordnung machen. Platz für Neues schaffen.

Ich streiche mir die Haare aus dem Gesicht, welche sich aus dem Dutt gelöst haben und greife dann nach der nächsten Schachtel.
All die kleinen Dinge, die ich nicht loslassen konnte, liegen hier.
Ein kleiner blauer Flummiball, den er in einem Überraschungsei bekommen und mir geschenkt hatte.
Ein Button mit der Aufschrift „I ♥ you", den er an einem Stand auf den Straßenfest für mich gekauft hatte.
Ein gepresstes Rosenblatt, das ich ihm geschenkt hatte. Sie war von der ersten Rose, die er mir gegeben hatte.
Ein kleiner Lilaner Teddy, den er aus einem dieser alten Automaten mit Greifarm für mich gewonnen hatte.
Eine Billardkugel, die er bei unserem ersten Date für mich gestohlen hatte.
Eine zerknitterte Stadtkarte von unserem ersten gemeinsamen Urlaub in Rom.
Eine Muschel vom Strand. Eine Plastikblume vom Jahrmarkt. Ein Bonbonpapier.
All die kleinen Dinge voller Geschichten und Erinnerungen. Geschichten, die mir alles bedeutet haben und jetzt mich zum Rande der Verzweiflung treiben.
Ich gebe es auf, die Tränen wegzuwischen. Es fließen ja eh ständig neue nach.
Dank ihnen sehe ich nur verschwommen, wie all die kleinen Schätze in den Abfalleimer wandern.

Ausmisten. Ordnung machen. Platz für Neues schaffen.

Die letzte Kiste enthält das letzte Puzzle unserer gemeinsamen Vergangenheit.
Ein Brief, in dem er sich für all die Sachen, die er getan hat, entschuldigt.
„Es Tut mir leid... All die Dinge die ich zu dir gesagt habe. All die Lügen und Geheimnisse... Ich liebe dich... Verzeih mir..."

Zettelchen, die wir uns im Unterricht damals geschrieben haben.
Treffen wir uns heute nach der Schule? – Ich muss im Laden helfen. – Wenn ich dich kidnappe, kannst du aber nicht arbeiten.– Du kidnappst mich? Wie romantisch. – Das findest du romantisch? Man, warum bin ich nicht früher auf die Idee gekommen?

„Willst du mit mir gehen? A: Ja     B: Antwort A   C: Antwort B"

Wollen wir die nächste Stunde schwänzen? Englisch braucht man doch eh nicht. – Nein. –Hmm und die übernächste? Mathe braucht man noch viel weniger. – Kaufst du mir dann Minzschokoladeneis am Strand? –So viel du essen kannst, Babe.

Ich liebe dich. Wollte nur, dass du es weißt.


Geburtstagskarten.
-Happy Birthday, Babe. Alles gute zum 20. Geburtstag. Ich liebe dich.

- Noch an deinem 70 Geburtstag wenn du alt und grau bist werde ich neben dir auf dem Schaukelstuhl sitzen und Minzschokoladeneis essen
.


Ausgedruckte Emails und Chat-Verläufe.
-Ich fasse es nicht, dass ich Hausarrest habe! Und das nur, weil wir auf dieser Party waren!
- Und weil wir verhaftet wurden.
- Da drin war es sooo super eklig!
- Solange ich mit dir in einer Zelle bin, lasse ich mich gerne noch 100 mal verhaften.

-Ich liebe dich
-Und ich liebe dich

-Du wirst mich doch nicht verlassen oder?
-Lieber sterbe ich, als jemals von dir getrennt zu sein.
- Götter, wer hätte gedacht, dass du so schnulzig sein könntest!
- Süße, du hast den Moment ruiniert!

-Du bist total gestört!
-Ja, aber deswegen liebst du mich.
-Ja...


-Ich wünschte, ich könnte jetzt bei dir sein.


Der Zeitungsauschnitt, in der unsere Verlobung bekannt gegeben wurde.
... geben ihre Verlobung am 3.7 bekannt. Der zukünftige Ehemann hat seine Verlobte auf eigene Aussage gekidnappt und an einen Privatstrand gebracht, wo er um Mitternacht vor ihr auf die Knie gefallen ist und um ihre Hand angehalten hat.

Eine Buchseite.
... Ein Auszug aus meinem Lieblingsbuch, Schatz...


Eine Liebeserklärung.
... Ich bin feige. Ich weiß das. Ich sollte wie ein Mann vor dir stehen und dir das ins Gesicht sagen, doch ich weiß nicht wie. Also schreibe ich dir das hier und hoffe, du verprügelst mich hinterher nicht. Ich liebe dich. Ich liebe es, wie du mich immer mitten im Satz unterbrichst und ein neues Thema anfängst. Ich liebe es, wie du lachst. Auch wenn du manchmal wie eine Vierjährige kicherst. Ich liebe deine Fröhlichkeit und deinen strahlenden Optimismus. Ich liebe deine Begeisterung für die kleinen Dinge wie ein Gänseblümchen oder Minzschokoladeneis. ...

Ohne einen weiteren Blick darauf zu werfen, schmeiße ich die komplette Kiste weg.

Ausmisten. Ordnung machen. Platz für Neues schaffen.

Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht und stehe auf. Mit einem Letzten Blick auf meine Vergangenheit im Papierkorb gehe ich ins Bett.
Ich starre die Decke an und versuche nicht an die leere Betthälfte zu denken auf der er immer geschlafen hat. Versuche nicht an den vollen Papierkorb zu denken. Versuche nicht an ihn zu denken. An den Jungen der mein Herz gestohlen und es zerstört hat.
Ich starre die Decke an, Und da verstehe ich es. Ich verstehe warum ich loslassen muss.

Ausmisten. Ordnung machen. Platz für neues Schaffen.
Es wird Zeit loszulassen.
Die Trauer ist noch da und es wird noch dauern, bis sie vergeht, aber ich werde es schaffen.
Der Papierkorb ist jetzt voll und ich, ich fühle mich leicht.
Einatmen und ausatmen.
Morgen ist ein neuer Tag und jetzt habe ich Platz für Neues.

Ausmisten. Ordnung machen. Platz für Neues schaffen.

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Die Meisten Menschen wissen gar nicht wie wichtig es ist hin und wieder auszumisten.
Alte Fotos die man sich eh nicht mehr ansieht weil es zu sehr wehtut die lachenden, für immer eingefroreneren Gesichter längst vergessener Freunde zu sehen.
Eine Kiste voller Krempel aus alten Zeiten mit Erinnerungen die doch eh nur verstauben. Und Platz für neues wegnehmen.
Auch virtuelles muss hin und wieder Ausgemistet werden. Profile und Avatare, Geschichten und Fotos. Facebook Freunde.
Doch genauso im realen Leben. Manchmal erkennt man das Leute die einem so wichtig waren und die sich deine besten Freunde FÜR IMMER genannt haben nichts weiter sind als Erinnerungen und staubige Fotos.
Es ist wichtig abzuschließen und loszulassen um Platz für neues zu Schaffen.
Meine Mutter sagt immer, dass man sein Leben alle paar Jahre wie einen Garten jäten sollte, um Überflüssiges zu entfernen - materielle Dinge genauso wie Menschen-, weil sich sonst immer mehr ansammelt, dass um Platz wetteifert, bis man sich in der Enge nicht mehr rühren kann.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 29, 2016 ⏰

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