"Die Blätter fallen jeden Winter von den Bäumen. Fünf oder sechs bleiben am Baum hängen und werden zum Spielball der Winde." - Charles de Montesquieu
Der Winter in Orléans war immer ein ganz besonderer. Nicht nur durch die lange Nächte, welche man bei Zeiten erlebte, nein, vor allem waren es die besonderen Gegebenheiten, die sich gerade zu dieser Zeit abspielten. Ja, im Winter gab es immer die meisten Wunder - vor allem, wenn dann das Haus so lieblich geschmückt war, wie sonst nie.
In Orléans feierte man schon immer gerne Weihnachten. Nicht zuletzt, weil die Familie Chevalier zu diesem Anlass ein ganz besonderes Fest veranstaltete. Die Zimmer der abgelegenen Villa waren mit Kristallen geschmückt, kleine Kugeln aus Gold und Silber schimmerten durch den Kerzenschein an den Fenstern des kleinen Elysiums dieser Welt.
Schon bevor man das Grundstück mit seinen arrangierten Wintergarten und Vorplatz betrat oder die Kutsche vor dem großem Tore hielt, verspürte man das Gefühl endlich angekommen zu sein. Es gäbe gar keinen passenderen Ort, als seine Zeit an diesem Abend in diesem Haus zu verbringen.
Ganz Orléans wusste wie es war, wenn die Gastgeber lächelnd - Hand in Hand - mit ihren vier Töchtern die Treppe hinunterstiegen und jeden Besucher freundlich empfingen. Die Gläser klirrten, man trinkt einen Schluck und man begibt sich in das Foyer, um zu Klaviermusik und Geigen zu tanzen. Man tanzt bis man nicht mehr kann, es wird gegessen, bis die Teller leer sind und es wird gelacht, bis die Sonne wieder den Horizont umschlingt.
Auch Louis de Calan war einer derjenigen, die das Glück hatten eine Einladung erhalten zu haben. Louis, oh Louis - der französische Uhrmacher mit dem langen schwarzen Mantel und den Handschuhen aus Leder. Er war es auch, der damals ein leeres Paket an seine Louise schickte. An seine Louise Chevalier.
Er nahm sich einen Karton, füllte ihn mit Wärme und seinen Küssen - umwickelte ihn mit schwarzem Papier und mit einem silbernen Band, ehe er es am Weihnachtsmorgen vor die Türe legte.
Louis hatte die Zeit in seiner Hand und spielte oft mit ihr herum, er verdrehte einige Zeiger seines Lebens und ließ es mal schneller und mal langsamer vonstatten gehen. Er suchte oft den richtigen Rhythmus und die perfekte Stelle, wo er wieder beginnen sollte, wenn er die Zeit mal kurz pausieren musste - aber er wusste es nicht. Manchmal passte er es, manchmal war er zu früh - aber so oft, so oft war er zu spät.
Als er mal wieder in seinen Gedanken war, er eine Taschenuhr reparieren sollte, da dachte er daran, wie es gewesen wäre, hätte er damals nur das Mädchen bis nach Hause gebracht. Die kleine Louise verirrte sich nämlich in einem Wald, zusammen mit dem kleinen Louis, als sie verstecken spielten und ein Sturm aufzog. Sie liefen zu ihm nach Hause, ganz schnell und dann - dann sagte sie einfach, sie würde ihren Weg schon wieder wissen und ging. Sie ging und er folgte ihr nicht. Es war so dunkel und kalt.
Sie sprachen nie wieder miteinander.
Doch dann bekam er diese Einladung und zog sich seine Schuhe an, legte seinen schwarzen Schal um seine blasse Haut, hüllte sich in seinen Mantel und streifte sich die Handschuhe über. Er nahm sich sein Geschenk - natürlich umwickelt im schwarzen Papier und mit einer silbernen Schleife und lief durch den weißen Schnee.
Es schneite schon seit mehreren Tagen und der Wind pfiff, beinahe wäre er über einen kleinen Stein gestolpert. Er irrte durch die Straßen und lief wirklich sehr lange - er hatte es damals ganz anders in Erinnerung.
Doch dann spürte er plötzlich die Wärme und hörte das Gelächter, nur noch wenige Schritte von ihm entfernt. Und da stand es nun. Das Haus aus seinen Träumen, mit dem Mädchen aus seinen Gedanken und seinen Wünschen.
Er klopfte kurz, und dann öffnete man ihm die Tür. Der Geruch von Zimt und Muskatnuss stieg ihm in die Nase, der Geruch von abgebrannten Kerzen mischte sich hinein. Und seine Ohren waren dann ganz betäubt von dem Gelächter und dem Frieden. Er versank später in der Atmosphäre der Glücklichkeit und der Hoffnung, bevor er dann, bei einem neuen Stück, sein Geschenk auf den Tisch legte und nach seiner Louise suchte.
Wie sehr hatte er sie vermisst?
Er ging durch einen blauen Flur, betrachtete die verschneiten Wipfel der Tannen und die kahlen Bäume, ehe er durch eine schwarze Tür in das Zimmer von ihr trat.
Sie saß auf ihrem Bett und hatte bereits ihr schwarzes Kleid an. In dem Moment als er das Zimmer betrat, war sie gerade im Stande ihre Perlen um ihren Hals zu legen.
Sie drehte sich ganz langsam um, sah ihn erst verwundert an, bevor sie dann die Kette in ihre Hände nahm und mit den Augen der Sehnsucht in ihr Herz schloss. Sie standen sich mehrere Minuten gegenüber, bevor der eine dem anderen dann etwas sagte.
Sie setzten sich dann auf ihr Bett und redeten so viel, dass sie ganz vergaßen wieder hinunter zu gehen und die Leute zu begrüßen. Sie hatten sich ja so viele Geschichten zu erzählen - aber auch so viele Fragen hatten beantwortet zu werden.
Sie philosophierten über ihre Welt, über das ganze Leben und über das leere Paket, welches Louis damals vor ihre Tür gelegt hatte.
Louis spielte in diesem Moment mit seiner Uhr und lies die Zeit ganz langsam ablaufen. Er sprach nicht so schnell wie sonst, ließ sich Zeit bei seinen Antworten und betrachtete die Ruhe außerhalb des Hauses.
Louise sprach so schön zu ihm und er fühlte sich so unglaublich geborgen. Wie gerne wäre er für immer bei ihr geblieben?
„Wie hast du es nur so lange ausgehalten?", fragte sie ihn dann.
„Weißt du, es tut so gut zu wissen, dass man manchmal bestimmte Dinge nicht erwarten darf und bestimmte Situationen niemals einkehren werden."
Es war der Moment, als er wieder seine Maske aufsetzte, alles über ihm zusammenbrach und er nur daran dachte, was alles passiert ist - was er von sich selber dachte und wie die Welt ihn wohl wahrnehmen würde.
Er wollte sie gerne in den Arm nehmen und ihr einen Kuss schenken, doch er traute sich nicht. Er verließ das Zimmer und guckte noch einmal zurück zu seiner Liebe, seinen Wünschen und seinen Träumen.
Und so lag er, Louis de Calan, auf dem kalten Winterboden. Vor ihm ein schwarzes Paket mit einer silbernen Schleife, leicht eingerissen. Seine Augen waren weit geöffnet, auf seinem Mantel lag schon etwas Schnee, als man ihn gefunden hatte. An seinen Augen glitzerten gefrorene Tränen. Es war Louise die ihn fand, nicht weit von ihrem Haus. Es war im selben Wald, wo sie sich damals begegnet waren und sie seitdem immer gerne einen Spaziergang machte.
Sie wusste, dass etwas passiert war. Sie hätte ihn nicht einladen dürfen. Sie hatte den vergangenen Tag nur am Fenster gesessen und darauf gewartet, dass er wieder durch die Türe treten würde. Mit seiner Unsicherheit. Mit seinen Fehlern. Darauf hatte sie gewartet. Auf sein Gesicht und auf seine Lippen. Dieses Jahr passierte kein Wunder.
Stattdessen fand sie seine blauen Augen und die roten Lippen im Schnee.
Und als sie das Paket nahm, sie schrecklich um ihre Liebe weinte, es dann öffnete fand sie eine Taschenuhr. Sie ging nicht mehr, der Zeiger war stehen geblieben.
Und sie kniete sich, umfasste seinen Handschuh, näherte sich seiner Stirn, spitzte ihre Lippen und gab ihm sein Geschenk, auf welches er so lange gewartet hatte.
Und für einen Moment blieb die Zeit der ganzen Erde stehen. Nur für eine Sekunde, für einen Herzschlag, für einen Traum.
*
Gefällt dir diese Geschichte? Diese und weitere meiner überarbeiteten Geschichten und Gedichte sind jetzt als Buch erhältlich. "Die Manifestation des Glücks" - von Marcel J. Paul kannst du bei Thalia, Amazon und vielen weiteren Anbietern bestellen und somit meine Arbeit unterstützen.
Vielen Dank im Voraus. :-)
DU LIEST GERADE
Orléans' Uhrmacher
Short StoryUnd für einen Moment blieb die Zeit der ganzen Erde stehen. Nur für eine Sekunde, für einen Herzschlag, für einen Traum.