Primaballerina auf Abwegen

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Prolog

Das Leben einer Ballerina ist ein Widerspruch in sich selbst. Wir sehen zerbrechlich aus. Sanft und elegant. Anmutig und weich. Dabei können die wenigsten Hochleistungssportler mit einem Tänzer mithalten. Dabei geht es nicht um höher, schneller, weiter. Es geht nicht darum wer stärker ist, oder weiter springen kann. Es geht um Ausdruck und um eine unverwechselbare Leichtigkeit in unseren Bewegungen. Um Perfektion. Die ebenso schwer zu erklären, wie zu erlangen ist.
Tanzen ist für mich Leben. Liebe. Freundschaft. Tanzen ist für mich so wichtig, wie die Luft zum Atmen. Vielleicht sogar wichtiger. Meine Seele hat einen Namen. Ballett. Ohne sie kann ich nicht existieren.
Das Bild, welches ich in der Öffentlichkeit abgebe, unterscheidet sich komplett von meinem Leben außerhalb der großen Bühne. Man lobt mich hoch. Unterstellt mir gerne Diven-Allüren, denn so sehen Menschen Primaballerina. Das alles ist mir fremd und ich gebe nach außen hin kaum etwas preis. Mein Privatleben gehört nur mir allein. Bei Journalisten und Klatschreportern kommt das nicht sonderlich gut an. Ich begegne ihnen misstrauisch. Verstehen können sie das nicht. Berühmt werden war nie mein Ziel und Allüren sind dumm, denn sie bringen dich nicht weiter. Ich will gut sein. Für mich und andere. Das ist mir wichtig.
Auf der Bühne bin ich ein starker Charakter. Privat bin ich ganz anders. Weniger hart, entspannter und schüchtern. Auch nicht so perfektionistisch wie auf der großen Bühne. Privat sehe ich das Leben sehr viel lockerer.

Ich spiele eine Rolle und das tue ich bis zur vollkommenen Erschöpfung, denn das ist es, was mich jeden Tag aufs Neue antreibt. Ich will besser sein, noch besser als an dem Tag davor. Noch besser an dem folgenden Tag
Mein Beruf, wenn man es denn so nennen kann, ist unweigerlich verbunden mit Schmerz. Nach der sagenhaften Euphorie, die mich immer packt, wenn ich die Bühne betrete, folgt Schmerz. Jeden Tag tut mir ein anderer Körperteil weh. Manchmal sogar mehrere. Schmerz ist für mich so alltäglich geworden, wie frühstücken. Man tut es, ohne wirklich etwas davon wahrzunehmen. Er ist dein ständiger Begleiter. Bisher hatte ich Glück, nie ernsthaft verletzt zu sein. Andere Tänzer hatten nicht so viel Glück. Manchmal endet die Karriere eines Tänzers ebenso schnell, wie sie begonnen hat. Du musst nur ein einziges Mal falsch aufkommen. Ein einziges Mal abrutschen, oder nicht aufmerksam genug sein. Du brichst dir etwas und wirst dich nie wieder so bewegen können, wie du es von deinem Körper gewohnt bist. Ich weiß, dass diese Vorstellung für jeden Tänzer die reinste Katastrophe ist. Auch für mich. Ein Leben ohne Tanz, ist für mich kein Leben.


Es ist halb Zehn an einem Samstagmorgen.

Meine Haare sind wie immer, wenn ich trainiere, streng nach hinten gebunden. Der feste Zopf zerrt an meiner empfindlichen Kopfhaut, doch ich fühle den Schmerz kaum. Ich trage ein rotes Top und eine enganliegende blaue Thermohose. Meine Füße stecken in furchtbar hässlichen ausgelatschten Ugg-Boots, damit sie warm und biegsam bleiben.

Zum Aufwärmen schwinge ich mein Bein bis hoch an die Nasenspitze.

Nach außen hin mag das nach Leichtigkeit aussehen, doch dahinter stecken viele tausend Trainingsstunden. Viel Schweiß, Blut und noch mehr Tränen.
Unsere Ballettmeisterin Annalise Morley leitet dieses Training. Sie ist keine nette Person und das braucht sie auch nicht zu sein. Wir wollen alle dasselbe. Perfektion und das erreicht man nicht mit netten Worten. Morley sagt uns nicht, was wir hören wollen, sie ist ehrlich und dafür schätze ich sie.
Annalise Morley war früher, so wie ich jetzt, Primaballerina und sie war eine der Besten. Sie flog höher und sprang weiter als jede Andere. Ich bewundere sie sehr und sie weckt meinen Ehrgeiz. Ich will besser sein, besser als sie und besser als alle anderen.
Zu Beginn üben wir alle fünf grundlegenden Fußpositionen. Plié, Hacke, Spitze, 1-2-3, und wieder von vorne. Ich beherrsche diese Schritte im Schlaf, trotzdem gebe ich mir nicht weniger Mühe. Bin nicht mit weniger Eifer bei der Sache.
Ich sehe mich um. Die männlichen Solisten dehnen sich, erhalten bellende Forderungen von Morley. Der Ton hinter der Bühne ist rau. Ich habe gelernt damit umzugehen.

Primaballerina auf AbwegenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt