Die prägende Kindheit

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Als Kind war das Leben so leicht. Ich kannte keine Sorgen, sondern tanzte unbeschwert im Regen und sprang voller Freude in die Pfützen die ein Schauer hinterließ. Ich verschwendete keine Gedanken an eine drohende Erkältung oder dreckige Kleidung. Kurz gesagt, ich lebte jeden Tag. Ich lebte diese Tage so intensiv, dass ein Jahr mir wie eine Ewigkeit vorkam. Keine einzige Sekunde wurde Verschwendet.

Doch dann traf mich der Blitz oder besser gesagt gab es die erste Tracht Prügel meines Vaters. Bis ich drei Jahre alt war, war er wie der Engel auf Erden. Wir machten alles zusammen. Er nahm mich jeden Sonntag mit auf Flohmärkte oder ging mit mir auf den Wochenmarkt. Nichts war mir zu früh, denn meine kindliche Abenteuerlust war nie gestillt. Mit großen Kinderaugen betrachtete ich das Obst, probierte es und erfreute mich an dem süßen Geschmack der frischen Erdbeeren, süß wie das Leben.

Doch nach einiger Zeit änderte mein Vater sich, er wurde krank, hatte starke Schmerzen und verbitterte von Tag zu Tag mehr. Dann kam noch der Alkohol. Dieser Geruch hat sich so sehr in meine Nasenschleimhaut eingebrannt, dass ich ihn manchmal einfach so rieche, wie eine Art des traumatischen Flashbacks.

Er fing mich an zu schlagen, bis ich grün und blau war. Ich musste dafür nicht einmal einen gravierenden Verstoß gegen Regeln begehen, es reichten Widerworte. Dann baute sich dieser riesige Mann vor mir auf und verfolgte mich bis in mein Kinderzimmer, in dem ich dann, kauernd vor der Heizung, in der Falle saß. Ich konnte noch so viel flehen, nach meiner Mutter rufen, doch dann schlug er schon auf mich ein, bis mir die Adern in den Augen platzten. Ich erinnere mich noch genau an den salzigen Geschmack der Tränen, die sich wie Kaskaden über mein Gesicht ergossen, oder die Ausreden im Kindergarten oder in der Schule, wenn mich die Lehrer fragten, wieso ich blutige Punkte in meinen Augen hatte. „Ich bin gegen eine Lampe gelaufen", sagte ich dann zum Beispiel. Ich frage mich noch heute, warum die Lehrer nichts unternommen haben, denn diese Ausrede war mehr als unglaubwürdig. Ich glaube ich wollte sogar, dass es auffiel, doch ich sagte niemandem direkt, was bei mir zu Hause passierte. Mein Vater schaffte es zwischen all diesem Hass den ich für ihn empfand trotzdem Schuldgefühle in mir auszulösen. Deshalb blieb mein Hilfeschrei stumm.

In meiner Not betete ich innerlich zu irgendwem, ich weiß nicht wer es war, Gott oder Superhelden, wer weiß schon an was Kinder, wenn sie noch klein sind glauben. Ich erinnere mich jedenfalls nicht mehr daran, ob ich an etwas glaubte, mein Vater war es jedenfalls nicht mehr. Meine Mutter stand weinend daneben, wenn er mich schlug und flehte meinen Vater an aufzuhören, ich sah jedes Mal diese Angst in ihren Augen. Sie hatte Angst davor, dass er nicht aufhören würde. Ich glaube, dass ich mir teilweise sogar gewünschte habe, dass er es endlich beendet. Schon in meiner frühen Kindheit hatte mich die Todessehnsucht also heimgesucht. Vielleicht riskierte ich die Prügel deshalb trotzdem weiter. Immer, wenn er meine Mutter erniedrigte verteidigte ich sie und steckte für sie ein. Ich wusste, dass ich sie beschützen kann, wenn ich den ganzen Hass den er in sich trägt auf mich lenke. So nahm ich schon mit 3 Jahren eine Rolle an die viel zu groß für ein solch kleines Kinderherz war.

Dieses ganze Geschehen zog sich über Jahre hinweg. Im Kindergarten begann ich meine Traurigkeit und den Wunsch nach Liebe und Anerkennung ebenfalls in Schläge umzuwandeln. Jedes Kind, das mich schlecht behandelte oder ausgrenzte wurde von mir verprügelt. Eine Vorstellung davon was es für die Kinder oder mich bedeutete hatte ich nicht. Es war mir auch egal, denn ich fühlte nichts. Ich war existent, aber von einem Leben konnte man nicht mehr sprechen. Ich war eigentlich nur noch aus Trotz auf dieser Welt. Ein depressiver Zellklumpen, widerstandsfähig wie ein Virus im Permafrost.

Plötzlich war ich der Mittelpunkt jedes Geschehens. Tatsächlich nahmen mich die Menschen das erste Mal wirklich war. Jonas hier, Jonas da, der Popstar unter all den Kindern. Ich bekam Aufmerksamkeit, auch wenn sie eher negativer Natur war. Ich nahm es aber nicht so war. Es war einfach schön da zu sein, zwischen all diesen perfekten kleinen Söhnen und Töchtern, die abgöttisch von ihren Eltern geliebt wurden. So konstruierte ich nach und nach meine eigene Welt, in der ich mich selbst am Leid und an der Wut der anderen aufwertete. Ich hatte ja schließlich Kontrolle über sie, denn selbst wenn ich nicht körperlich anwesend war sprach man über mich.

Nach kurzer Zeit begannen sich die Eltern der anderen Kinder täglich über mich zu beschweren, nur, weil ich atmete. Alles was ich tat, sei es nur das Erkunden meiner Umwelt wurde als anstößig wahrgenommen. Ich erinnere mich noch sehr gut an den Tag an dem ich unbedingt wissen wollte wie viel Spucke in meinen Mund passt. Ich schluckte so lange nicht runter bis mein Mund voll war und weil sein Inhalt einfach ekelhaft kalt und schlechtschmeckend war spuckte ich ihn auf den Gehweg des Kindergartens. Anstatt einfach anzunehmen, dass ein kindliches Experiment hinter der mir nicht bekannten Untat steckte, bekam ich gleich ein Disziplinarverfahren aufgehalst. Verdammt! Ich wusste nicht einmal, dass das Spucken auf den Gehweg etwas ist, das man nicht macht.

Schlussendlich zog sich dieses Verhalten durch meine gesamte Schullaufbahn. Bis zur 5. Klasse. Mittlerweile war meine kognitive Entwicklung soweit fortgeschritten, dass ich merkte, dass es nicht richtig war andere Menschen zu schlagen, denn ich wollte schließlich auch nicht, dass andere Menschen mit mir so umgingen. Trotzdem brachte es nicht wirklich viel, da mir sämtliche Lehrer eine schwarze Zukunft vorhergesagt hatten.

Ich begann mich nun zwar zu bessern, aber dafür wurde mein soziales Umfeld umso schlechter. Man kam in die Pubertät. Plötzlich drehte sich alles um die härtesten Muskeln, die coolsten Markensachen und die heißesten Mädchen. Das alles interessierte mich aber zu diesem Zeitpunkt recht wenig. Ich war in meinen Augen einfach ein stinknormaler Junge, der einfach das trug und tat was er mochte.

Heute begreife ich, dass das ein weiterer Punkt in meinem Leben war an dem ich anders hätte handeln können. Wäre ich mit den Haien mit geschwommen, dann hätte sich mein Leben vielleicht ganz anders entwickelt, doch hätte-hätte-Fahrradkette, wer weiß was passiert wäre. Ich bedauere es aus dem heutigen Standpunkt nicht, dass ich diese Richtung eingeschlagen habe, obwohl es damals von Monat zu Monat härter zuging.

Mittlerweile bewarf man mich auf dem Schulhof mit Müll, Schüler wichen angewidert zur Seite, wenn sie mich sahen, andere umzingelten mich und lachten mich aus bis ich weinen musste. Dann kam in der 8. Klasse der Punkt an dem es einfach nicht weiterging. Ich kam kaum noch zur Schule, obwohl ich der Klassenbeste war. Ich wurde ständig krank. Das traurigste war aber, dass ich damit begann Selbstmordpläne zu schmieden. Es gab für mich nichts mehr auf dieser Welt, wofür es Wert war zu leben. Wenn ich liebte, so war es stets vergeblich, wenn ich jemanden mochte, dann ignorierte mich diese Person. Ich hatte keine heile Familie, ich hatte keine Freunde, nur Feinde, die wahrscheinlich noch auf mein Grab pissen würden, wenn sie es könnten. Ich war ja nur ein Loser in ihren Augen.

Das schlimmste war, dass ich mich mittlerweile auch als einen Loser betrachtete. Wer war ich denn schon? Ich hatte noch nie eine Freundin und alle anderen Kerle hatten mindestens schon zwei. Ich hatte kein Geld, ich konnte nicht reisen, ich sah ja nicht einmal besonders gut aus. Ich hatte nichts Interessantes an mir, also konnte diese gnadenlose, farblose Welt auch auf mich verzichten.

Dann kam der Tag an dem es geschehen sollte. Es geschah aber ein Wunder, ein tragisches Wunder. Ein Junge brachte sich an der Stelle um an der ich es für mich geplant hatte. Ich ging dorthin und sah all die trauernden Freunde unter der Brücke stehen, wie sie weinten und sich in den Armen lagen. In diesem Moment legte sich ein Schalter in mir um und ich begriff, dass es bessere Wege als diesen gibt. Ich entschied mich zu kämpfen egal wie lange es dauern würde. Ich ging in meinen Garten, pflückte eine Rose und legte sie zwischen all den trauernden Seelen, an einem Holzkreuz nieder. Der Baustein für die tiefe Melancholie in mir wurde gelegt und er sollte über all diese Jahre weiter in mir wachsen.


Sie ist mein SchicksalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt