2. Ohne Worte

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Ich war mal wieder spät dran, wie oft in den letzten Tagen. Ich wohnte nicht weit von der Schule entfernt, was aber noch lange nicht hieß, dass ich nie zu spät komme, weil mein Weg doch so kurz sei. Wohl eher im Gegenteil, schließlich konnte ich so später aufstehen als die Leute, die mit dem Bus zur Schule fuhren. Ich kam kurz vor Unterrichtsbeginn am Eingang des Schulgebäudes an. Auch als ich die Gänge entlang rannte war mir nicht aufgefallen, wie leer es heute doch war. Erst als ich meinen Raum erreicht hatte, wurde mir klar, dass mir mal wieder etwas entgangen war. Hatten wir schulfrei? Fiel mein Geschichtskurs heute aus? Ich schaute mich in dem Raum um, in den ich vor wenigen Sekunden hereingestürmt war, wie eine Irre. Von den sonst 21 Leuten, befanden sich 6 an ihren Plätzen, darunter 3 Jungs mit denen ich nichts zu tun hatte, meine beste Freundin Jil, mein bester Freund Jaspar und Kohana, die beste Freundin von dem Mädchen, dass ich am wenigsten ausstehen konnte - Chloe.

Chloe kam aus guten Verhältnissen und meinte deshalb auch wohl des öfteren nicht zum Unterricht zu erscheinen. Sie hatte alle 2 Wochen eine neue Beziehung am Start und soll Gerüchten zufolge bereits mit 14 ihre Jungfräulichkeit verloren haben. Viel zu klischeehaft für ein blondes, schlankes und reiches Mädchen, nicht? Aber so war sie. Sie konnte einem schon oft die Nerven rauben, vor allem wenn es um ihre Art ging an Jungs ranzukommen. Manchmal fragte ich mich, ob sie sich zum Ziel gesetzt hat, auf jeder Party, zu der sie ging mit mindestens einem Typen rumzumachen, den sie noch nie vorher gesehen hatte, nur um ihren Ruf, als beliebtestes Mädchen der Schule aufrecht zu erhalten. Denn genau das war sie, jeder kannte sie, dabei setzte sie sich nicht einmal für irgendwelche Projekte oder dergleichen an unserer Schule ein. Ihre beste Freundin Kohana, auch "Koko" hingegen war eher eine Art Mitläufer. Sie stammt aus einer asiatischen Familie und war meiner Meinung nach genau dadurch ein wenig lernbereiter als andere hier. Sie hat seit ich sie kannte nur ein einziges mal in der Schule gefehlt, und wirkte nach außen hin sehr fleißig. Wie es in ihr drin aussah wusste vermutlich niemand bis auf Chloe. Die beiden sind seit der Grundschule befreundet und benehmen sich dementsprechend wie Schwestern. Schon irgendwie seltsam, wenn man bedenkt, dass die beiden quasi von Grund auf verschieden sind, aber vielleicht ist es das, was sie zusammenhält. Immerhin passte Kohana sich Chloe an, indem sie sich schminkte und teure Markenklamotten trug. Generell ist Koko in letzter Zeit aus sich herausgekommen, was vermutlich auf ihren Umgang mit Chloe zurückzuführen ist.

Die beiden tauchten normalerweise nur zu zweit auf. In letzter Zeit fehlte Chloe jedoch oft im Unterricht, weshalb mich ihr Fehlen heute auch nicht sonderlich wunderte. Mich wunderte eher das Fehlen der restlichen 15 Schüler.

Ich ging einfach wie gewohnt zu meinem Sitzplatz, vielleicht gab es dafür ja eine logische Erklärung. Ich ging auf Jil zu, die neben mir saß, doch sie schaute mich nicht an. Sie starrte in das Leere. Ich schaute sie verwirrt an, was war heute nur los? Ich ließ mich auf meinen Stuhl nieder und drehte mich zu meinem besten Freund um. "Jaspar, was ist los? Wo sind alle?" Er schaute mich nur an, antwortete nicht. Ich verdeutlichte ihm mit leichtem Kopfschütteln, dass ich ihm eine Frage gestellt hatte, doch er brachte immer noch kein Wort heraus. "Warum redet ihr nicht mit mir?" Ich kam mir vor wie in einem Traum. Er bewegte erst nur die Lippen, ohne etwas zu sagen, dann hörte ich mit leiser kratziger Stimme: "R-Rachel... Hast du nicht gehört?" Er schwieg wieder. "Was nicht gehört? Was ist denn los?", fragte ich lauter. Wieso konnte mir denn niemand sagen, was Sache war? Ich hörte, wie die Tür zum Raum sich öffnete. Unser Geschichtslehrer Strecke seinen Kopf herein. "Was machen Sie denn alle hier? Ich denke es ist nicht richtig, dass der Unterricht heute stattfindet. Wir werden mit dem Stoff sobald wie möglich fortfahren, sobald sich die Lage beruhigt hat, aber gehen Sie jetzt besser nach Hause, Sie sind alle vom Unterricht freigestellt."

"Wieso?", fragte ich deutlich. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich aufgestanden war. Die anderen, die ihre Sachen bereits einpackten, hielten kurz inne und schauten mich an. "Haben Sie nicht die Fotos mit den Kerzen vor dem Schulgebäude gesehen?", mein Lehrer sah mich an, als sei ich der zurückgebliebenste Mensch auf diesem Planeten. Ich hatte keine Kerzen und Fotos gesehen, so schnell, wie ich vorhin durch die Schule gerast war. Ich schüttelte verwirrt den Kopf: "Nein, wieso?" Mein Lehrer hielt den letzten die gangen die Tür auf und schloss sie schließlich hinter sich, sodass wir nur noch zu zweit im Raum waren. Er atmete tief durch und teilte mir mit "In der Nacht von Freitag auf Samstag sind zwei ihrer Mitschüler bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Es handelt sich um Chloe Price und Shawn Caulfield. Der Schulleiter hat beschlossen, betroffene Kurse für die nächsten Tage zu streichen und somit einige Schüler vom Unterricht zu befreien."

Mir stockte der Atem. Ich brachte keinen Ton aus mir heraus, andererseits fiel mir nichts ein, was ich dazu sagen könnte. Ich merkte, wie mein Gesicht die Farbe verliert. In diesem Moment fiel mir auf, dass Koko noch im Raum saß und ohne jegliche Emotionen Aufgaben aus dem Buch erledigte. Trotzdem spürte ich, dass sie traurig war.

Wenn Zufall zur Gewohnheit wirdWo Geschichten leben. Entdecke jetzt