Bella

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Die ersten Strahlen der Morgenröte weckten mich aus einem Schlaf, der niemals hätte enden sollen. Ich wollte es nicht, wollte nicht, dass sich meine Augenlider öffneten und mich zurück in eine Realität brachten, die mittlerweile von einer Leere umhüllt war, die ich weder beschreiben, noch verstehen konnte. Nichts hatte mehr eine Bedeutung, rein gar nichts war mehr von Belang. Diese Wirklichkeit begleitete mich nun schon seit sieben Jahren – seit mich die Stanleys als elfjährige Waise bei sich aufgenommen hatten. Sieben Jahre waren eine relativ lange Zeit und die Veränderung meiner Seele war unaufhaltsam vorangeschritten. So intensiv, dass meine Pflegefamilie mir keine Ruhe mehr ließ.

Sie verstanden nicht, dass ich die Stille dem lauten pulsierenden Leben in ihrer Mitte vorzog. Aber wie hätte ich ihnen Antworten auf ihre besorgten Fragen geben sollen, wenn ich doch selbst keine Antworten besaß?
Mein Verstand hatte sich schon lange verabschiedet. Und meine Gedanken? Die waren hinein getaucht in eine Welt, aus der ich nie wieder zurückkehren wollte – eine Welt, in der meine geliebten Eltern Charlie und Renée noch da waren, lebendig und nicht gestorben in dem schrecklichen Feuer, das nicht nur unser Haus zu einer verkohlten Ruine hatte werden lassen, sondern auch mein Inneres.

Der Anker meiner Seele hatte sich in den Tiefen meiner eigenen Existenz festgesetzt. Nichts und niemand vermochte mich aus meiner Traumwelt zu reißen, in der ich immer mit Mom und Dad zusammen war. Bis ich SIE zum ersten Mal sah. Erst SIE verstanden, mich wieder zu wecken aus meiner eigenen Lethargie. Rubinfarbene Antlitze, geschaffen aus den lodernden Flammen eines unermesslichen Feuers, glühend und voller Liebe zugleich. Umwerfend und genauso wenig von dieser Welt, wie die himmlische, überirdische Attraktivität jenes Mannes, dem sie gehörten. Ich buhlte einzig nach diesen faszinierenden strahlenden Augen, die mich seit der ersten Nacht auf Schritt und Tritt verfolgten und mich nicht mehr losließen.

Verrucht und verführerisch zugleich. Ausschließlich dafür geboren um mir meine Seele und meinen Verstand zu rauben. Ich war eine Gefangene. Eine Marionette dieses geheimnisvollen Fremden, der mich mit seinen Fäden zu einer Sklavin gemacht hatte – zu seiner ganz persönlichen Sklavin. „Isabella?" Seufzend blickte ich aus dem bodenlosen Fenster hinaus in die grenzenlose Freiheit und genoss das angenehm warme Gefühl, das sich auf meinem Körper ausbreitete und welches ich den vielen Sonnenstrahlen zu verdanken hatte. „Du kommst wieder zu spät, wenn du nicht bald aus deinem Bett hüpfst. Und wieso hast du denn schon wieder das Fenster offen gelassen?"

Ich antwortete nicht, sondern beobachtete stumm, wie meine Pflegemutter mein Zimmer betrat und sogleich hinüber zum Fenster ging, das bis zum Anschlag geöffnet war. Was sie nicht wusste und was ich ihr auch niemals im Leben verraten würde, war die Tatsache, dass nicht ich es geöffnet hatte. Dass es in jeder Nacht, seit mittlerweile neun Tagen, offen stand, war in meinen Augen längst zur Normalität geworden. Ich lächelte verträumt. „Das Frühstück wartet unten bereits.", sprach sie weiter und schloss das Fenster, ehe sie sich umdrehte und ging. Ich blickte ihr nicht hinterher, doch hörte ich, wie sie die Tür schloss. Ein kurzer Blick auf die Wanduhr mir gegenüber verriet mir, dass ich noch über eine Stunde Zeit hatte, bis ich das Haus verlassen musste.

Es erfreute mich, so konnte ich noch einige wenige und doch kostbare Minuten auf meinem Bett verbringen und hinaus in die Freiheit der Natur blicken. Das bodenlose Fenster ermöglichte mir einen herrlichen Ausblick, der mir den Garten unseres Hauses präsentierte. Obstbäume und Blühsträucher, aus den denen der liebliche Gesang der Vögel ertönte, verteilten sich auf der Rasenfläche, an die ein romantischer Teich grenzte, daneben die gemütlich eingerichtete Veranda. Inmitten all dieser Pracht erstreckte sich gleichmäßig ein buntes Meer aus wunderschönen Blumen. Der Wind spielte mit den Kronen der Bäume und ließ diese hin und her schaukeln. Es erinnerte mich an sein wehendes, tiefschwarzes Haar.

Diese vollkommene seidige Haarpracht, die ihm weit über die Schultern herabfiel und durch die ich erneut mit beiden Händen fahren wollte. Weich wie Daunen und genauso perfekt wie sein unmenschlich perfekter, schlanker, aber dennoch muskulöser Körper. Ich kannte diese unglaubliche Gestalt nur aus meinen Träumen und doch war ich mir hundertprozentig sicher dessen, das dieses Wesen kein Mensch sein konnte. Wer auch immer dieser Mann sein mochte, alles was ich wusste, war, dass er mir seit nunmehr neun Tagen Träume bescherte, die absolut verboten waren. Seine Kunst lag in der Macht der Verführung, verrucht und gefährlich zugleich. Trotz der Wahrheit, dass sie einzig in meinen Träumen existierte, hatte sie es geschafft, meine Seele vollends einzunehmen.

Er hatte sich in meinen Verstand gebrannt wie mein eigenes Leben. Ohne Rücksicht auf Verluste und ebenso unbarmherzig, mit einer Perfektion, die mir geradezu den Atem raubte – jedes Mal, wenn ich an ihn dachte. Die Stärke des Windes dort draußen war genauso mächtig wie dieser Mann selbst. Er besaß eine Kraft, die tief in seinen Augen ruhte und mich seit neun Nächten hypnotisierte, um mich jedes Mal aufs Neue in eine vollkommene Ekstase zu versetzen. Sein Aussehen war ein Geschenk Gottes, sein Talent hingegen die Macht des Teufels. Denn jener Mann, der mir seinen Namen in meinen Träumen niemals verraten hatte, nutzte sein vom Paradies geschaffenes Äußeres, um seine eigene Lust zu befriedigen.

Ja, all diese verlockenden Träume hatten mich in jeder Nacht hinein in eine Welt gezogen, in der ich ihm genauso verfallen war, wie er mir. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie er mit seinen eiskalten Händen über meine warme Haut strich und dabei einen Kontrast verursachte, der mir eine Gänsehaut bescherte. Ich erinnerte ich mich zurück daran, wie er meinen Hals, meine Brüste, selbst meine glühende Weiblichkeit mit seinen herrlichen Lippen liebkost und mir süße Qualen bereitet hatte. Wie ich mit jeder weiteren Sekunde, die vergangen war, ungeduldig darauf wartete, dass er uns beiden endlich Erlösung schenken würde.

Und dann, als er seinen eiskalten perfekten Körper an meinen gepresst, mir auf sanfte Weise die Unschuld geraubt und mich genommen hatte, war es ein unbeschreibliches Gefühl gewesen, das mich durchströmte und jede noch so kleine Zelle mit absoluter Leidenschaft erfüllte. Ich seufzte tief und verdrängte die Erinnerung daran, wie ich ihn in mir gespürt hatte, um mir gleich darauf vorzustellen, wie es wäre, jetzt einen Kuss von ihm zu bekommen. Seine schön geschwungenen Lippen auf meinen..., weich und zart, mit einer Süße des Lebens, die wahrscheinlich seinesgleichen suchen würde. Sein liebevolles Lächeln war etwas, das ich ebenso wenig vergessen konnte, wie seine schimmernden rubinroten Antlitze, die mich nach wie vor unablässig verfolgten.

Das Strahlen seines Lächelns verfing sich in den Flammen der beiden Rubine und versetzte mich in eine Trance, in der ich am liebsten für immer verweilen würde.
„Bella, hör endlich auf zu träumen! Wir müssen zur Schule!" Die genervte Stimme meiner Pflegeschwester Jessica und das Klopfen gegen die Tür holten mich zurück in eine Realität, die zwar um mich herum ruhte, aber schon längst kein Teil meines Lebens mehr war. Einzig und allein sein überirdisches Aussehen und die brennende Liebe in seinen Augen waren das, was noch eine Rolle spielte. Denn er war zu meinem ganz persönlichen Engel geworden, zu meinem Seelenverwandten.

„Heute Nacht.", murmelte ich lächelnd und stand auf, wissend und davon überzeugt, dass er auch heute Nacht das Bett mit mir teilen würde. Wenn auch nur in meiner eigenen, kleinen Traumwelt.
„Ich mache mich ja schon fertig", rief ich Jessica zu, ging schnellen Schrittes durch den Raum und betrat das Badezimmer. Ich raufte mir die dunkelbraunen Haare, die noch völlig zerzaust waren und betrachtete mich im Ganzkörperspiegel. Ein Blick in mein Gesicht sagte klar und deutlich, dass ich zu wenig geschlafen hatte, obwohl dies definitiv nicht der Fall gewesen war. Die dunklen Augenringe waren allerdings nichts zu dem, was sich auf meinem Dekolleté befand.

Ich fasste dorthin und fuhr mit meinen Fingern die Konturen all der Kratzer nach, die sich auf meiner hellen Haut befanden. Meine Augen weiteten sich und ich staunte nur noch mehr, als ich mehrere verräterisch blaue Flecken erkannte, die eindeutig vorhanden waren. Neun Nächte waren vergangen, doch dies war der erste Morgen, an dem ich nun so etwas entdecken und anschauen konnte. Es war seltsam und keinesfalls zu erklären und ich fragte mich, was ich wohl meiner Pflegefamilie sagen würde, wenn sie die Flecken sowie Kratzer an meinem Hals und Dekolleté erblicken würden. Jessica würde vor Neugier platzen und mich wie eine Zitrone ausquetschen, wenn sie die Knutschflecke entdecken würde, ganz klar.

Genauso klar, wie diese Flecken wahrhaftig vorhanden waren. Es war so surreal, so unglaubwürdig und entsprach doch einem realen Abbild. Ich schluckte. Das Bild im Spiegel verschwamm, während dutzende Gedanken mit voller Wucht auf mich einstürmten wie eine Abrissbirne, die gegen ein Gemäuer prallte.
Es waren seine unglaublichen Augen, die vor mir erschienen und mich in eine vollkommene Gefangenschaft zogen. Ein Sprung hinein in die unendlichen Tiefen seiner roten Flammenwelt und ich war bereit, niemals wieder aufzutauchen. Sein Gesicht erschien plötzlich vor mir, voll gleicher Schönheit wie in meinen Träumen und sein Körper verdeckte meinen, als seine Erscheinung sich vor mein Spiegelbild schob.

Seinen Unterleib gehüllt in den sündigen Hauch einer hautengen Boxershorts, präsentierte er mir seine leibhaftige muskulöse Gestalt und strahlte mich voller Leben an, auch wenn mir meine Augen am Ende nur einen Streich spielten. Aber dieser Anblick wirkte so real, dass ich nicht anders konnte, als meine Hand in Richtung des Spiegels zu strecken. Und ich genoss es, genoss wie meine Finger über die Konturen seiner perfekten Brust strichen, wobei ich das Glas unter meiner Haut deutlich spüren konnte.
Dieses Bild war eine Fälschung und doch konnte ich nur allzu deutlich die Wärme seiner Ausstrahlung wahrnehmen, die sich wie eine zweite Haut um meinen Körper legte.

Ich erschauderte. Versunken in meiner eigenen Welt aus verruchten Gedanken, ließ ich mich von diesem surrealen Anblick verführen und spürte, wie mir heiß und kalt gleichermaßen wurde. Ich wollte IHN. Ich wollte ihn aufs Neue in mir spüren und dabei jede Sekunde genießen, die er uns beiden schenken würde. Ja, ich wollte, dass er aufs Neue in mich eindringt und mir einen Orgasmus beschert, der mich wiederum dazu verleiten würde, mir Verletzungen wie diese zuzufügen. Denn ich spürte keinen Schmerz. Ausschließlich das Gegenteil war der Fall. Dieser Anblick all der leichten Kratzer erregte mich nur noch mehr, auch wenn diese Wunden überhaupt nicht existieren durften. „Ich will dich.", hauchte ich seinem Bild entgegen und lächelte versonnen.

All die Stunden, die mir noch bevorstanden, bis die Dämmerung eintreten würde, empfand ich jetzt schon als eine niemals enden wollende Qual. Aber allein an seine gottgleiche Schönheit zu denken, verhalf mir letztendlich dazu, meine Ungeduld in stille Geduld zu verwandeln. Es war schwierig, aber machbar.
„Aro will dich auch! Er wird dich holen, Liebes! Heute Nacht!", hallte es plötzlich umher und wandelte sich zu einem Echo, das ununterbrochen in meinen Ohren widerhallte. Meine Augen weiteten sich und erstaunt drehte ich mich um, aber da war niemand, dem ich diese Stimme hätte zuordnen können. Die Worte waren gekommen aus dem Nichts und waren ebenso verklungen im Nichts. Schnell, aber trotz alledem klar und deutlich.

„Aro.", wiederholte ich. „Aro." Mein Herz begann zu rasen, klopfte fast schon schmerzhaft gegen meinen Brustkorb und bat mit jedem weiteren Schlag darum erlöst zu werden. Auf eine unangenehme Art und Weise waren die einzelnen Schläge förmlich in meinem Hals spürbar und ebenso unangenehm war jenes Gefühl, als ich drohte zu ersticken, weil jeder weitere Schlag meines Herzens nur noch an Stärke gewann.
„Heute Nacht!", erklang es erneut, mit einer derart schmelzenden männlichen Stimme, die einer herrlichen Komposition glich.

Eine Stimme, die perfekt zu ihrem Antlitz passte. Mir blieb keine Zeit um wirklich zu verstehen, was hier gerade geschah, da es ein plötzlicher Windhauch war, der gegen meinen Körper prallte.
Ich schritt über den Granitboden und folgte dem Wind, der mir auch im Haus entgegenschlug und mich unweigerlich in mein Zimmer führte. Das Fenster, das meine Pflegemutter geschlossen hatte, stand erneut offen. Es war Tatsache und damit eine Erkenntnis, die mir den Atem raubte....

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Der Kuss des VampirkönigsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt