Wenn...

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Das einzige was sie sieht ist wie ihr Leben an ihr vorbeizieht. Jede Sekunde, die sie gelebt hat, jede Sekunde, die sie geatmet hat, jede verdammte Sekunde. Von ihrer Geburt über die Schulzeit bis hin zu dem jetzigen Zeitpunkt. Jetzt, wo sie mit keuchendem und röchelnden Atem in der Blutlache in ihrem Badezimmer liegt.

Der Tag hat wie jeder andere begonnen. Sie ist dreizig Minuten wach im Bett gelegen, wollte nicht aufstehen, hat sich am Ende aber doch dafür entschieden. Also steht sie auf. Geht in ihr Badezimmer. Übergibt sich. Spuckt Blut. Und wird letztendlich ohnmächtig. Sie wacht auf. Zieht sich an und geht nach langem Überlegen doch noch in die Schule.

In der Schule fühlt sie sich ausgeschlossen. Sie war nie wirklich einsam, aber bei Gruppenbildungen war sie alleine und wurde von allen weggeschickt. Irgendwann hat sie gemerkt wie viele eigentlich nett zu ihr waren. Und die hat sie allesamt von sich selber weggestoßen. War alleine in den Pausen, ging raus, rauchte schachtelweise Kippen und vernachlässigte alles, wirklich alles. Sie hat schlechtere Noten geschrieben, wäre fast durchgefallen, sie hat frühere Kontakte abgebrochen und hat nie ihr Zimmer verlassen.

An diesem Tag hat sie bis spät in den Nachmittag Schule. Sie macht überall mit, aber ihre Aufmerksamkeit gilt der laut aus den Kopfhörern hallenden Musik. Musik lässt sie vergessen. Vergessen, wie alles gerade den Bach hinunterstürzt und sich über ihr ausbreitet.

Im Unterricht krempelt sie ihre Ärmel hoch, sie fühlt sich dem Ersticken nahe, es ist so unglaublich heiß unter ihrem Pullover. Sie zeichnet weiter, bis sie bemerkt, wie sich eine Gruppe von Menschen hinter ihr sammelt. Gespannt nimmt sie die Kopfhörer heraus, was auch von ihren Mitschüler gesehen wird. „Ist dir ein Mähdrescher über die Arme gefahren?" „Was ist das denn bitte?" „Sieht aus wie ein Birkenbaum!", hinter ihr sammeln sich die verschiedensten Bemerkungen, aber sie nimmt keine wirklich ernst. Bis jemand von ihren Mitschülern an ihr vorbei geht und dabei zischt: „Du willst doch eh nur Aufmerksamkeit."

Sie versucht es zu ignorieren, aber schafft es nicht. Energisch zieht sie ihre Ärmel wieder runter und widmet sich ihrer Arbeit. Als sich aber Tränen über ihr Gesicht bahnen kann sie sich nicht mehr konzentrieren und packt schnell und panisch ihre Sachen ein, ihr Gesicht immer zum Boden geneigt, damit keiner sieht, wie sie bitterlich weint. Schnell gehend verlässt sie den Klassenraum, knallt dabei mit einem Lehrer zusammen, der sie aber ignoriert, weil er zu vertieft auf sein Handy schaut. Hätte er ihre Tränen gesehen, würde sie vielleicht noch leben.

Damit sie den weiteren Blickkontakt mit anderen Personen vermeidet, setzt sie sich ihre Kapuze auf und geht die Treppen hinunter, ohne zu schauen, wo sie überhaupt hintritt. So übersieht sie eine Stufe, und erwischt nur schwer die darunter. Rechtzeitig kann sie sich noch am Geländer festhalten, aber so zieht sie die Aufmerksamkeit einiger Schüler auf sich, die gerade die Treppen hinaufsteigen wollen. „Geht's?", fragt eine der Personen, aber sie antwortet nicht und so wird auch hier keiner auf ihre Tränen aufmerksam. Hätte einer der Schüler ihre Tränen gesehen, würde sie vielleicht noch leben.

Ihr Atem geht schnell, sie spürt ihr Herz unter der Brust pochen, aber sie wird nicht langsamer oder bleibt stehen. Stattdessen wird sie immer schneller, so schnell, dass die Kapuze von ihrem Kopf fällt, aber ihr ist es ziemlich egal, denn jetzt kann sie keiner mehr aufhalten. Als sie durch die Eingangshalle rennt wird sie wieder langsamer, aber trotzdem stolpert sie über eine Erhebung im Teppich und fällt somit hin. Gerade in diesem Zeitpunkt kommen zwei Lehrer mit ihren Fahrradhelmen durch die Eingangstür. Einer der beiden will ihr gerade aufhelfen, als sie sich selber aufrafft, ein leises ‚Danke' murmelt und die Kapuze aufrichtend aus der Schule geht. Hätte einer der Beiden ihre Tränen gesehen, würde sie vielleicht noch leben.

Vielleicht würde sie noch lebenWhere stories live. Discover now