Das Mädchen stand ganz allein auf der Lichtung, während der kühle Wind den Saum ihres schneeweißen Kleides um ihre nackten Knöchel tanzen ließ.
Ihr langes braunes Haar war zu einem dicken Zopf gebunden, der schwer auf ihren Rücken fiel.
Aus traurigen braunen Augen blickte sie mich schweigend an.
Ihre kleinen Finger klammerten sich um einen Zettel, als hinge ihr Leben davon ab.Langsam, Schritt für Schritt, näherte ich mich dem Mädchen. Was hatte es an einem kühlen Septemberabend mitten im Wald verloren?
Als ich nur noch wenige Meter von ihr entfernt war, streckte sie den Arm aus und hielt mir den Zettel hin, den sie zuvor so fest umklammert hielt.
"Kommst du?", fragte sie und ihre Stimme war so leer und seelenlos, als spräche eine Puppe.
Ich überbrückte zögerlich den letzten Abstand zwischen mir und dem Mädchen und nahm ihr den Zettel aus der Hand.Mitternachtszirkus, stand dort in weißen Lettern auf schwarzem Grund, daneben der Name meiner Heimatstadt und das heutige Datum.
Es war eine Eintrittskarte. Verwirrt runzelte ich die Stirn. Von einem solchen Zirkus hatte ich nie zuvor gehört.
"Was ist das für ein Zirkus?", wandte ich mich an das Mädchen, doch es antwortete nicht.
Stattdessen streckte es mir seine kleine, blasse Hand entgegen.
"Kommst du?"
Sie würde mich zu diesem Zirkus führen, ganz bestimmt.Neugierig griff ich nach ihrer Hand; sie war eiskalt.
Augenblicklich setzte das kleine Mädchen sich in Bewegung, so behände, als schwebte es über den Waldboden. Ein wenig unbeholfen stolperte ich hinterher, während kleine Zweige von den umstehenden Bäumen nach meinen Kleidern griffen, als wollten sie mich aufhalten.
Ungeduldig zupfte ich die Zweige aus meinem Haar und schüttelte sie von meiner Jacke, während das Mädchen ungehindert voranschritt.
Die Dämmerung setzte bereits ein und durch die dicht stehenden Bäume drang kaum ein Lichtstrahl zu mir durch.
Ich tappte wortwörtlich im Dunkeln.Umso überraschter war ich, als sich vor meinen Augen ein mannshohes Zirkuszelt erhob. Die Zeltbahnen waren pechschwarz und verschmolzen nahezu mit der Dunkelheit, einzig ein schwaches Licht aus dem Zelteingang beleuchtete meinen Weg.
Das Mädchen blickte mich ungeduldig an. "Kommst du?"
Ohne ein weiteres Wort verschwand sie im Zelt.Ich näherte mich ihm vorsichtig und betrachtete es verwirrt. Es war schließlich viel zu klein, kaum höher als ich. Was war das denn für ein seltsamer Zirkus?
Schließlich siegte die Neugier und ich schlug die Plane am Eingang zur Seite, um einzutreten.
Der Anblick, der sich mir bot, ließ mich überrascht innehalten.
Auf einmal war das Zirkuszelt viel größer und wölbte sich weit über meinem Kopf.
Die Zeltbahnen, die Manege, alles war schwarz. Ein gleißendes Leuchten schien von der Mitte der Manege auszugehen und tauchte alles in gespenstisches Licht."Karte?" Direkt neben mir erklang eine Stimme, doch ich konnte niemanden entdecken. Erst, als ich den Blick ein wenig senkte, sah ich ein kleines, griesgrämig dreinschauendes Männlein, das mir gerade einmal bis zur Hüfte reichte.
Ein wenig perplex hielt ich dem Männlein die Eintrittskarte hin, die das Mädchen mir gegeben hatte.
Das Männlein nickte zufrieden, riss eine kleine Ecke von der Karte ab und gab sie mir anschließend zurück.
"Ah, sogar ein Logenplatz. Miss Magareta war großzügig zu Ihnen, junger Mann. Folgen Sie mir, ich führe Sie zu Ihrem Platz."
Ein wenig verdutzt folgte ich dem Männlein, das trotz seiner kurzen Beine erstaunlich schnell laufen konnte, und fragte mich, wer wohl Miss Magareta war.Die Logenplätze waren mit schwarzem Pannesamt gepolstert. Beinahe ehrfürchtig setzte ich mich auf den Platz, den das Männlein mir zuwies.
Als ich mich umblickte, fiel mir auf, dass ich dem Anschein nach der einzige Besucher des Zirkusses war. Die vielen Bankreihen hinter mir waren leer und ich fühlte mich mit einem Mal unglaublich klein.
"Kommen nicht noch andere Besucher?", wandte ich mich an das Männlein. Nahezu verwirrt sah es mich an. "Noch andere? Wo sollen wir die denn unterbringen, es ist doch kein einziger Platz mehr frei!"
"Wie bitte? Aber-", wollte ich einwenden, doch das Männlein legte nur einen Finger an die Lippen. "Psst, die Vorstellung beginnt."
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Der Mitternachtszirkus
Short StoryDas Blut tropfte tränengleich von den Füßen der Seiltänzerin, als sie grazil auf dem messerscharfen Stahlseil balancierte. Ihr starres, puppenhaftes Lächeln glich einer Maske, während ihre Augen den Schmerz widerspiegelten, den sie mit jedem Schritt...