1 - Spielstraße

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Helles, fast weißes Leuchten und ein angenehmes Rauschen, wie das von, an den Strand schwappenden, Wellen, waren das erste was Stegis Sinne wahrnahmen. Bunte, vorbei rasende, Farben. Verschwommene Umrisse die ihm entflohen, sobald er versuchte einen von ihnen zu fokussieren. Geborgenheit. Freiheit. Wo er sich befand? Stegi hatte nicht die geringste Ahnung. Der Strudel aus Farben, Umrissen und Rauschen wurde langsamer. Er begann sich zu manifestieren, feste Formen auszubilden.

Und in diesem Moment erkannte Stegi um was es sich bei den Farben und Formen handelte. Eine fast vergessene Erinnerung.

Wärme. Licht. Sommerwind. Der Geruch von frisch geschnittenem Gras. Das fröhliche, aufgedrehte Lachen der spielenden Kinder. Im Grunde genommen die Inkarnation eines Sommertages wie er im Buche stand.

Ein gelber Strich auf hellgrauem Pflasterstein. Daneben ein dunkelblauer. Ebenso wie ein brauner. Konzentriert krakelte der kleine Junge mit seinen heiß geliebten Kreidestücken am Rand der Spielstraße auf der reges Treiben herrschte. Doch die anderen Kinder schienen ihn nicht zu interessieren, obwohl sie in regelmäßigen Abständen zu ihm herüberschielten und hinter vorgehaltenen Händen tuschelten. Der Kleine blendete alles um sich herum aus, war eingetaucht in seine eigene kleine Welt, war fokussiert auf die Zeichnung eines Dinosauriers, der in Form eines Plüschtieres neben ihm auf dem Boden saß.

Auf einmal traten mehrere Kinderfüße in das Blickfeld des Blonden und das Wasser einer Wasserpistole traf das mühe- und liebevoll gestaltete Bild. Von dem Kleinen kam keine Reaktion, nur der Griff der winzigen Kinderhand um das Kreidestück festigte sich. Kleine Kreidestückchen krümelten auf den Boden. Als jedoch sein Kuscheltier in hohem Bogen in ein Gebüsch am Straßenrand flog und er grob nach hinten gestoßen wurde suchten sich große, heiße Kindertränen ihren Weg aus den grün schimmernden Augen über die rosigen Wangen. Ein lautes Schluchzen teilte die Lippen des Blonden. Wieso? Was hatte er ihnen getan? Er verstand es nicht, verstand die anderen Kinder nicht, von denen die meisten nun das Geschehen stumm beobachteten. Sie waren neugierig. Der Blonde sah es in ihren Augen.

Die Versuche sich gegen seine Peiniger zu wehren wurden immer weniger, bis von dem stillen Jungen nur noch ein kleines, weinendes, von Schluchzern geschütteltes Bündel übrig blieb, das sich auf dem Boden zusammenrollte. Warum?!

Wie sich die Menge zurückzog bemerkte der hellblonde Knirps nicht, ebenso wenig wie das Rascheln von Blättern im nahegelegenen Gebüsch. Doch der sanfte, vorsichtige Druck auf seiner Schulter zwang den Kleinen dazu aufzusehen.

Direkt neben ihm hockte ein Junge. Er sah freundlich aus, soweit der Grünäugige das durch seine von Tränen verschleierte Sicht wahrnehmen konnte. Nussbraune, kurze Haare. Leicht sonnengebräunte Haut. Ein schlichtes schwarzes T-Shirt. Beruhigend. Doch am interessantesten waren die tiefbraunen Iriden sowie das schüchterne Lächeln des Fremden Jungen.

»Alles okay?« In das Bild des hilfsbereiten Jungen fügte sich nun auch seine helle Kinderstimme ein, die absolut zu seinem äußeren Erscheinungsbild zu passen schien.

Noch immer hing der Blonde seinen Gedanken über den unbekannten Jungen nach und vergaß dabei völlig auf dessen Frage zu reagieren.

Doch den Fremden schien dies nicht zu stören. Er hielt ihm die Hand hin und wartete geduldig darauf, dass der Blonde sie ergreifen würde. Und nach wenigen Sekunden traf die kleine Hand des Blonden auf die des Braunhaarigen. Blond und Braun. Braun und Grün. In dem Moment als sich ihre beiden Hände berührten spürte der Blonde nur eines: Vertrauen. Ja. Er vertraute diesem Fremden.

Der fremde Junge zog ihn in eine innige Umarmung, die der Blonde nur zu gerne erwiderte. Seine Hände gruben sich in das schwarze Shirt, die Tränen versiegten. Ob es seltsam war mit einen Unbekannten eine derartige Geste der Zuneigung zu teilen? Vielleicht. Doch für diesen Augenblick gab es nichts Richtigeres für den Grünäugigen auf der Welt. Er fühlte sich verstanden, akzeptiert, als wäre er zu Hause angekommen.

»Alles okay?«, wiederholte der Braunhaarige seine Frage, nachdem sie die Umarmung gelöst hatten.

Noch etwas schniefend wischte sich der Kleinere über die Augen und nuschelte ein »Ja«.

Freudig grinsend und dabei seine schneeweißen Milchzähne offenbarend drückte der Braunhaarige ihm nun seinen Plüsch-Dino in die Hand. »Der gehört doch dir, nicht wahr?«

Heftig nickend beantwortete der Blonde die Frage. Dankbarkeit durchströmte ihn. Dankbarkeit gegenüber dem fremden Jungen.

»Wie heißt du eigentlich? Also ich bin der Tim«, redete Tim einfach weiter.

Verwirrt darüber, dass keine Frage zum Verhalten der anderen Kinder kam, schüttelte der Blonde kurz seinen Kopf. Jedoch schien Tim diese Kopfbewegung traurig zu stimmen. Ein trüber Glanz überzog die großen, braunen Kinderaugen. Enttäuschung. Ganz eindeutig.

»Du willst es mir also nicht sagen? ...Schon gut... Ich dachte nur...Ach egal...«, verletzt wandte Tim sich zum Gehen, doch der feste Griff um sein Handgelenk hielt ihn zurück. Grüne Augen blickten ihn trotzig an. Nein. Niemals würde der Blonde den Jungen protestlos gehen lassen, der nicht wie alle anderen auf ihm herumgehackt hatte. Tim. Obwohl ihm höchstwahrscheinlich nicht einmal bewusst war, wie sehr er dem Blonden das gegeben hatte wonach er sich die ganze Zeit gesehnt hatte - Zuneigung. Zuneigung die nicht von Eltern und Familie, sondern von Altersgenossen ausging.

»Lukas.«

»Lukas?« Tim legte seinen Kopf schief, musterte ihn intensiv, um dann zu antworten, »Nein. Nicht Lukas.«

»Hä?« Über dem blonden Wuschelkopf schwebte ein riesiges rotes Fragezeichen.

»Stegi. Du heißt Stegi und nicht Lukas.« Voller Überzeugung strahlten die braunen Augen.

»Was soll ein Stegi sein?«

»Na du«, lachend zeigte Tim auf den blauen Plüsch-Dino in Lukas' Hand, »Das ist ein Stegosaurus. Du hast mit deiner Kreide einen Stegosaurus auf die Straße gemalt und auf deinem Rucksack ist auch einer. Stegosaurus. Aber Stegosaurus ist so lang, deshalb: Stegi. Is' doch ganz klar!«

Kaum dass Tim seine wirre Erklärung beendet hatte legte sich ein glückliches, ehrliches Lächeln auf die Züge des Blonden.

»Also ich bin der Tim. Und wer bist du?«, kicherte Tim.

»Stegi. Ich bin Stegi!« Glücklich quietschend sprang Stegi auf Tim zu, der ihn lachend auffing, um dann trotzdem zu Boden zu fallen. Tim. Sein Tim. Nur seiner.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Feb 14, 2017 ⏰

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