Berlin

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Ohne Worte drückte ich ihm die Waffe in die Hand. ,,Nimm sie. Du kannst sie besser gebrauchen als ich." Er nickte. ,,Danke, Kleine." Sein pechschwarzes Haar fiel ihm ins Gesicht, bedeckte seine leuchtend violetten Augen. Schon immer habe ich ihn bewundert. Er war groß, stark, durchsetzungsfähig ... Eben genau das, was man im Leben brauchte. Nach vorne blickend klopfte ich mir den Staub von meiner weiten, dunkelgrünen Hose., wobei mir mein gewelltes, haselnussbraunes Haar über die Schultern fiel. 
Ich grinste. Der Anblick vor mir öffnete sich wie ein schon lang geschlossenes Fenster. Das Brandenburger Tor, unversehrt, inmitten von Trümmern, Asche und Toten. Hellgraue Wolken verdeckten den dunkelgrauen Himmel, kein einziger Sonnenschein war zu sehen. Die Quadriga, in ihrem leuchtendem Grün, stand friedlich auf dem farblosen Tor. Xaver steckte sich die Pistole in seinen Hosenbund und ging ein paar Schritte nach vorne.

Nachdem ich die staubige Luft eingeatmet hatte, folgte ich ihm. Keine Menschenseele war auf der Straße zu sehen, nur die Leichen lagen friedlich da, schauten mit leeren Augen zum Himmel hoch. ,,Na komm schon, Kleine. So besonders ist das Ganze nun auch wieder nicht, dass du bei jedem Schritt stehen bleiben musst. Nimm dir einen Fuß mit, wenn du willst und dann gehen wir.'', abwartend sah er mich an. ,,Butterblume. Starr mich nicht so an. Wir müssen weiter, weil wir keine Ahnung haben, wie spät es ist.'', ein kleines Grinsen schlich sich auf seine Lippen als er bemerkte, wie glücklich ich wurde.

,,Hast du eine Nadel? Messer? Fäden?'', schnell schloss ich den Abstand zwischen uns und hüpfte aufgeregt auf der Stelle herum, während er lachend in seinen Hosentaschen nach einem Messer suchte.
Als er es gefunden hatte, legte er es, inklusive Nadel und Faden, in meine kleinen Hände. Ich rannte zu einem kleinen Kind, es lag leblos auf dem Boden. Große, grausame Verbrennungen verzierten seinen Körper. Mein Blutdurst stieg augenblicklich. Ich schob ihm seine kleinen Lider auf, mit der Absicht, sein leeres, glasiges Kinderauge zu entnehmen. Schauriges wurde ihm angetan. Und es konnte noch nicht einmal etwas dafür. ,,Ein Auge? Was willst du denn damit anfangen?'', fragte mich Xaver, inzwischen hatte er sich neben mich gestellt. ,,Hey. Frag nicht. Du bist schließlich derjenige, der einfach so eine Nähnadel in seiner Hosentasche hat. Würde mich nicht wundern, verstauest du darin noch einen Schuh oder einen hüpfenden Plastikfrosch, geschweige denn der Nofre-Tete. Also wieso nicht gleich ein Auge?'', gut gelaunt fuhr ich mit meiner Beschäftigung fort.

,,Was für eine Zufall. Alles vorhanden. Außer der Nofre-Tete natürlich. Aber die bekomme ich auch noch!'', erwiderte er, während er mir zärtlich eine Butterblume ins Haar steckte. Ich schüttelte nur den Kopf. ,,Du bist unmöglich. Aber da wir schon dabei sind - hast du eine Gabel, die du mir borgen könntest? Mit dem Messer kann man das Auge nicht so gut aufspießen.''
,,Natürlich, Butterblümchen. Für dich doch alles'', sagte er freundlich, während ich vorsichtig die Gabel in die Hand nahm, die er mir reichte.

*

Genervt legte ich die beschriebenen Seiten weg. Ich schrieb nicht zu Ende, wie sie dem Kind die Augenlider zunähte. Ich schrieb nicht zu Ende, wie die beiden durch ganz Berlin liefen, das durch die Terroranschläge abgebrannt und zerstört wurde. Schrieb nicht zu Ende.
Ich legte den Stift bei Seite. Legte den Kopf auf den Tisch. Machte die Augen zu. Und dachte nach. Bis zum 31. März hatte ich Zeit, einen Text über Berlin zu schreiben und ich schaffte es nicht. Schon vier Ansätze hatte ich weggeworfen. Den fünften würde ich nicht so weiterschreiben, das wusste ich jetzt schon. Berlin. Was für einen Bezug zu Berlin muss die Geschichte haben? Was für einen Bezug zu Berlin muss ich haben? Seufzend hob ich den Kopf und sah aus dem Fenster. Es war dunkel, nur der Mond schien hell über der Stadt. Keine Sterne. Berlin. Was für eine Vielfältige Stadt. Und nie hatte ich etwas mit ihr zu tun. Ich wohnte in ihr. Und weiter? Nie hatte ich mir Gedanken gemacht und jetzt musste ich über sie schreiben.

Berlin [completed]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt