Wie sie fliegen lernte

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Es war nicht unbedingt eine ruhige Nacht. Ganz im Gegenteil, es regnete in Strömen. Blitze durchleuchtenden den schwarzen Himmel und das Grollen der Wolken tönte durch die Dunkelheit. Ein Wetter bei dem man lieber zuhause im Warmen sitzt, mit einer Tasse Tee, dick in eine Decke eingekuschelt.
Der Wind schüttelte an den Bäumen. Die wenigen Blätter die noch nicht ihren Weg auf den Boden gefunden hatten, wurden gewaltsam heruntergerissen und weit hinfort getragen. Eine stürmische Nacht und doch wagte sich eine kleine Gestalt durch den Regen. Bekleidet mit einem, für das Wetter gar unpassendem, weißen Nachthemd. Der Wind riss an seiner Kleidung, wie an den Blättern, als wolle er der Gestalt den letzten Schutz vor dem Regen nehmen.
Ein Mädchen in einem einst schneeweißen Nachthemd, ein Mädchen, dass sich durch die Launen der Natur kämpfte. Lange, braune Haare peitschten ihr ins Gesicht. Ihre bloßen Füße gruben sich mit jedem Schritt tief in die glitschige, nasse Erde und mit jedem Schritt drohte sie zu fallen. Doch sie gab nicht auf, auch wenn sie schon mehrmals ins Stolpern geraten war. Sie gab nicht auf und kämpfte weiter. Sie war vollkommend durchnässt, was bei dem Regen kein Wunder war. Sie weinte.
Was für ein Klischee. Wie aus einem Buch. Renn kleines Mädchen sonst kriegt dich der Wind.
Was hatte sie zum Weinen gebracht? Das Leben. Das Schicksal. Nenn es wie du willst. Ein einsames, trauriges Mädchen im einst schneeweißem Nachthemd, dass nicht mehr lächeln wollte. Es wollte nur noch laufen, weg von all seinen Problemen. Immer tiefer in den Wald.
Hat dir denn nie jemand gesagt, dass man bei Nacht nicht so tief in den Wald geht? Und dann auch noch bei so einem Wetter?
Doch das Mädchen hörte nicht auf zu rennen.
Dabei willst du doch, dass alles aufhört, oder?
Sie wollte einfach nicht mehr. Für sie gab es nichts mehr auf dieser Welt für das es sich zu leben lohnen würde.
Träne fein, Träne klein. Lass mich nicht los und wein.
Was hatte sie falsch gemacht? Es war nicht wirklich ihre Schuld. Es war das Leben und seine Konsequenzen. Es war das Lieben und das Hassen. Es waren Wörter, die ihr Leben zerstört hatten.
Alles gleich, immer das Gleiche. Wo rennst du nur hin?
Und dann kam sie an ihr scheinbares Ziel.
Eine Klippe.
Die Stimme lächelte. Sie konnte die Stimme lächeln hören.
Was machst du hier? Was soll das? Geh zurück und versteck dich unter deiner Decke, versteck dich und wein.
Sie wollte das nicht, hatte das nie gewollt. Es machte sie verrückt, die Stimme, sie hörte einfach nicht auf. Es war immer nur eine. Eine Stimme, die ihr so schmerzlich in Erinnerung blieb. Sogar nach ihrem Tod musste die Stimme sie weiterhin zerstören.

„He was machst du da?!" hört sie die Stimme schreien. Sie schreckt auf und starrt in wunderschöne, grüne Augen. „Finger weg von meinem Spind!" Das Mädchen zuckt zusammen und schaut verwirrt auf ihre Füße. ,,Das," sagte die Stimme und zeigt auf den Spind den sie gerade öffnen wollte „ist verdammt noch einmal nicht dein Spind, hast du gehört?"

Damit fing es an. Sie hatte sich einfach nur vertan.
Stehlen, du wolltest mich bestehlen. Das kleine, arme, unschuldige Mädchen wollte mich bestehlen!
Sie ging schon lange nicht mehr auf die Stimme ein, so oft hatte sie ihr das schon vorgeworfen. Ihr war egal was mit ihr passierte. Das war ihr schon immer egal gewesen, solange sie den Grund wusste. Ein Versehen. Das kann kein Grund sein! Das kann kein Grund für jahrelange seelische Schmerzen sein!
Lauf meine Kleine, lauf solange du noch kannst.
Ein Autounfall. Das wohl Schönste, dass in ihrem Leben je passieren konnte. Sie hatte noch nie solche Freude verspürt. So atemberaubend und wunderbar Freude, dass sie weinen musste. Es war vorbei, endlich konnte sie wieder allein sein! Endlich konnte sie wieder ohne Angst und Panik rausgehen.
Lauf, lauf, lauf.
Doch dann kam sie. Zuerst ordnete sie die Stimme als Gedanken ein. Ganz normal. Aber sie hatte eine unvergessliche Art und Weise sich auszudrücken. Die Stimme lachte. Sie lachte laut und schrill.
Lächerlich, wie in einem Film, einem Drama. Was soll das, als ob du nur annähernd den Mut hättest das zu tun!
Die Stimme nistete sich in ihren Kopf ein und dann, einen Monat nach diesem wunderbaren Ereignis, erkannte sie die Wahrheit. Nie würde sie allein sein. Und das Mädchen zerbrach daran. Sie wollte alleine sein. Immer schon. Das, war immer schon alles was sie wollte. Von nun hörte sie die Stimme nicht mehr nur draußen. Sie war immer da. Kommentierte alles, hasste alles, schrie sie an. Sie sei wertlos und sie hätten kein Recht zu Leben. Schon wieder lachte sie.
Erbärmlich. Läuft grad dein Leben vor deinen Augen vorbei? Denkst du über alles noch einmal nach? Bringt sich doch nichts.
Lange hatte sie mit der Stimme diskutiert, hatte sie angeschrien.
L-Ä-C-H-E-R-L-I-C-H. Du bist lächerlich.
„Lass mich in Ruhe, lass mich endlich in Ruhe."
Als ob mich das zum Gehen bewegt.
Es war ihre Strafe. Dafür, dass sie sich über den Tod eines Menschen so sehr gefreut hatte. Schadenfreude war nie etwas Gutes.

Der Regen hatte aufgehört und nur noch ein kalter, starker Wind rüttelte an dem einsamen Mädchen. In der Ferne konnte sie manchmal noch das leise Grollen des Donners hören und ab und zu leuchtete der Himmel auf wie ein Leuchtfeuer, aber sonst war es ruhig. Alles schlief. Es war vorbei. Jetzt konnte sie endlich allein sein. Sie würde das Fliegen lernen! Die Stimme lachte, mittlerweile hysterisch.
Nein, das tust du nicht. Dazu hast du nicht den Mut. Das traust du dich nicht!
Das Mädchen im weißen Nachthemd trat an die Kippe und starrte nach unten. Sie hatte keine Tränen mehr. Sie konnte einfach nicht mehr weinen. Endlich war es vorbei und sie würde wieder allein sein. Ob man sie hier überhaupt findet? Oder besser gesagt, würde überhaupt jemand nach ihr suchen? Nein, wahrscheinlich nicht.
Aber schau, in dieser Welt gibt es doch so vieles, für das es sich zu leben lohnt. Du kannst doch nicht einfach gehen, oder? Bleib doch noch ein bisschen. Lass mich nicht allein!
Panisch, die Stimme wurde panisch. Das kleine Mädchen musste lächeln. Ein breites Lächeln. Ein Lächeln, dass noch nie jemand auf ihren Lippen gesehen hatte und auch nie sehen wird. So breit wie das Strahlen der Sonne.
Die Stimme konnte es nicht glauben. Die Kleine lächelte.
Es war kein schadenfrohes Lächeln, es war kein trauriges Lächeln, auch war es kein glückliches Lächeln. Kein müdes Lächeln oder ein erleichterndes Lächeln. Es war einfach nur ein Lächeln.
Nein. Ich schwöre, wenn du mich allein lässt!
„WAS? Was willst du dann machen. DU bist nichts, ohne mich bist du nichts. Ohne mich lebst du nicht mehr. Dann bist du endlich weg. Dann kann ich endlich wieder allein sein," schrie das Mädchen in die Welt hinaus. Es war zu Ende. Das hier war ihr Ende und obwohl sie endlich allein sein wollte, wartete sie.
Es war nicht so, als ob sie Eile hätte. Im Gegenteil, zum Sterben hatte sie alle Zeit der Welt. Aufhalten würde sie keiner. Außer vielleicht diese nervige, dumme Stimme in ihren Kopf die jetzt nur noch schrie. Als ob sie jetzt noch irgendwas bewirken könnte.

Sie hatte sich entschieden.

Nein, sie wollte nicht aufgehalten werden, sie wartete um noch einmal die Sonne zu sehen. Noch einmal wollte sie ihr Leuchten fühlen und die Wärme auf ihrer blassen Haut spüren. Dann endlich war es so weit. Die Sonne kroch langsam hervor, tauchte alles in ihr goldenes Licht. Die Stimme hatte nun aufgehört zu schrein. Es war so weit. Endlich konnte sie alleine sein. Alles war still und dann lachte sie. Sie lachte ein letztes Mal und die Welt nahm ihr Lachen auf. Das Lachen eines einsamen Mädchens, dessen Leben von Wörtern zerstört wurde. Das Mädchen lachte und die Welt fing an zu weinen. Die Welt weinte um eine für immer verloren gegangene Seele und schickte ihr grausam, schönes Lachen in die Weite. Sie trat an den Rand der Klippe und lernte fliegen. Endlich allein, dachte das Mädchen. Die Stimme lachte.

Du wirst nie allein sein.

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