Fragen über Julian

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Wie oft kann man der Routine des Alltags verfallen, ohne komplett verschlungen zu werden? Verschmelzen die Augenblicke nicht einfach irgendwann zu einem?

Wie so oft stelle ich mir diese Frage, während ich neben Julian herlaufe. Leicht nach vorn gebeugt, stemmt er das Gewicht seines Rucksacks. Glänzend schwarze Locken bedecken seine hellbraunen Augen, verhüllen seine blasse Haut und die hohen Wangenknochen. Wenn ich mit Julian zusammen bin, sind alle Tage gleich. Ein lautloses Zusammenarbeiten, stets angespannt, stets in der Angst, dass jemand etwas sagen könnte. Das ist nicht immer so gewesen. Früher redeten wir auf unserem Weg zur alltäglichen Gefangenschaft (der Schule) so viel, bis wir keine Kraft zum Sprechen mehr hatten. Doch mit der Zeit sind wir beide Meister des Schweigens geworden. Mittlerweile glaube ich schon in der unendlichen Stille lesen zu können, Tag für Tag.

Wie geht es dir?

Kurz vorm Selbstmord, aber hey.

Ja, kann ich verstehen.

...

Ich bin übrigens in ihn verliebt. Nur falls sie sich das gefragt haben.

Als wir am Schulhaus ankommen, folgt der letzte Akt dieser alltäglichen Routine. Wir verabschieden uns voneinander und gehen in verschiedene Richtungen. Ich zu meinen Freunden, er zu seinen. Zumindest ich tauche aus meinen mehr oder weniger philosophischen Gedanken auf und werde zu einem eigentlich ganz normalen Mädchen. Ich lache mit meinen Freunden über Belanglosigkeiten und frage mich, ob meine Schuhe auch zu meinen Klamotten passen oder so. Was mich aber nicht daran hindert, ab und zu hinüber zu hellbraunen Augen und dunklen Locken zu spähen.

Die Schulklingel reißt uns aus unserer wundervoll unwichtigen Unterhaltung. Ich setzte mich in Richtung Turnhalle in Bewegung. Sie ist ein hässliches, altes Ding. Eine Bausünde der Siebziger. Als wahrscheinlich einziges Mädchen aus meiner Klasse freue ich mich wirklich auf ihren Anblick. Die Doppelstunde Sport ist für mich eine Gelegenheit, aus meinen nebligen Gedanken aufzutauchen und einfach ich selbst zu sein. Rennen, springen, umdrehen – nicht überlegen, einfach machen. Als ich schließlich in der Halle stehe, heißt es Fußball. Kann ich. Der Nebel in meinem Kopf wird so dünn, wie er nur werden kann. Immer noch da, aber kaum zu spüren. Ein dritter Modus. Philosophin, Mädchen, Sportlerin.

Annehmen, passen, decken. Alles geschieht fast automatisch. Ich bahne mir meinen Weg über das Spielfeld, bis ich schließlich vor Julian stehe. In Sport geht es ihm ähnlich wie mir: Er verliert alle Hemmungen. Doch in seinen Augen sehe ich mehr als nur Zielstrebigkeit. Sie offenbaren mir blanke Wut und kalten Hass. Fast bringt mich dieser Anblick aus dem Konzept, doch im letzten Moment weiche ich ihm aus, dribble den Ball geschickt um ihn herum und atme den Geruch seines Schweißes ein. Ein angenehmer und zugleich widerlicher Geruch. Einen Herzschlag später fliegt der Ball mit einem klatschenden Geräusch, das im Gebrüll der Mannschaften untergeht, ins Tor. Langsam werden meine Gedanken wieder glasig, denn der Schiedsrichter lässt einen gellenden Pfiff ertönen. Das Spiel ist aus. Lächelnd drücke ich meine Freundinnen. Sie haben alle mehr oder weniger passiv am Spiel teilgenommen, doch jetzt gratulieren sie mir überschwänglich. Eigenartig. Wie können Menschen nur so unterschiedliche Interessen und Eigenschaften haben? Bei Gelegenheit muss ich darüber nachdenken. Aus dem Augenwinkel sehe ich Julian aus der Umkleide (auch bekannt als Folterkammer des Deos und Testosterohrs) treten. Ich drehe mich zu ihm um, versuche seinen Blick zu fangen.

Alles was dann geschieht, ist ganz schnell und ganz langsam zugleich. Schnell verläuft alles um uns herum, doch Julian und ich bewegen uns wie in Zeitlupe. Von irgendwoher zieht er eine Pistole. Viel zu früh und viel zu schrill erklingen die Schreie meiner Freundinnen. Ein Schuss. Blut auf dem Boden. So viel Blut. Dabei hat er doch noch gar nicht abgedrückt.

...

Oder?

Ich renne auf Julian zu. Doch was gerade noch ganz normaler, schweißgetränkter Sauerstoff war, ist nun irgendwie zu Honig geworden. Ich kann mich kaum bewegen. Übelkeit übermannt mich, als ich den metallenen Blutgeruch einatme. Julian dagegen ist aus unserer Langsamkeit entkommen, reißt die Waffe in die Höhe.

„Da habt ihr euch geschnitten, Arschlöcher! Jahrelang nur Dreck, Dreck, Dreck. Ich war euer Miststück, oder? Gelacht habt ihr; gemeint ich wäre komisch, oder? Oder?! Ich will eine Antwort."

Der Pistolenlauf deutet auf Myriam, die „Coole" in der Klasse. „Antwort!"

Myriam murmelt irgendetwas unverständliches, ihre nackte Panik ist deutlich zu spüren.

„Ihr habt gemeint, ich wäre komisch. Ich konnte machen was ich wollte. Ich war der Komische. Der Außenseiter, der, den keiner leiden konnte. Ich habe nie etwas falsches getan. Habe ich je jemanden von euch etwas zu leide getan? Nein. Das wart ihr. Ihr habt mir komische Geschichten angehängt. Keine Sorge, ich kenne sie alle. Er trinkt. Er raucht. Seine Eltern schlagen ihn. Der gibt damit an. Er – gibt – damit – an? Das habe ich nie. ICH HABE ES NIE!"

In plötzlicher Rage reißt er den Revolver erneut Richtung Deck. Schüsse. Staub rieselt herunter.

Mittlerweile ist eine ernsthafte Panik zwischen den Anderen ausgebrochen, doch niemand rührt sich. Nicht einmal unser Sportlehrer macht Anstalten, irgendwie Hilfe zu rufen. Stattdessen hat er sich schützend vor einige Mädchen gestellt. An unserer Schule ist er für seine zahlreichen Affären mit Minderjährigen bekannt. Warum er deswegen noch nicht entlassen wurde, ist mir schleierhaft ... unwichtig. Stattdessen habe ich es tatsächlich – nach einem unendlichen Kraftakt – geschafft. Ich stehe nur noch fünf Schritte von Julian entfernt. Seine Augen funkeln vor Abscheu, seine Hand zuckt und nun zielt er auf mich. Was soll's, ich bin sowieso schon wahnsinnig. Ich trete noch einen Schritt auf ihn zu.

„Du." Seine Stimme trieft voller Hass, doch auch Trauer klingt leise darin nach. Wie konnte ich nur so blind sein? „Von all diesen idiotischen Bastarden bist du die Schlimmste. Ich hasse dich so sehr. Du hast mich immer nur wie Luft behandelt. Ich war doch eine null für dich, oder? Ein Loser. Nebel."

Und, so absurd es auch ist, in diesem Moment erkenne ich, wie sehr ich ihn liebe.

„Juli", sage ich und bemerke, dass ich angefangen habe zu weinen, „ich hatte doch nur Angst."

„Angst." Er lacht freudlos, wahnsinnig. „Wovor? Vor mir?"

Schlucken. „Es ist doch n-nur, weil ... weil ich ... dich m-mag, Juli."

Er lächelt. Ein ungläubiges, verhöhnendes Lächeln. „Natürlich."

„Ich sage die Wahrheit!"

Erneute Rage befällt ihn. Er schießt mit der Pistole einen Zentimeter neben meinen Schuh. „Du magst mich, sagst du? Du magst mich?" Er drückt sich die Pistole direkt an seinen Kopf. „Wenn ich mich jetzt umbringen würde, was würdest du tun? Du würdest eine Party feiern. Genau wie alle anderen. Dann wartet ihr wie Aasgeier auf den nächsten der kommt, euren neuen ‚Spinner'. Du magst mich nicht, glaub mir."

Fünf Schritte. Ich bin bei ihm, reiße die Pistole von seinem Schädel weg und halte meine Hand dazwischen, genau in dem Moment, in dem er abdrückt. Die Kugel fährt direkt in die Mitte meiner Hand und schießt am Rücken  wieder heraus. Glatt durch. Ein Schwall aus Blut folgt.

In meiner Hand explodiert ein bodenloser Schmerz. Ich halte sie nach unten, trete einige Schritte zurück und versuche mich so lässig wie möglich hinzustellen. Wie viel Menschen für gewisse Dinge doch bereit zu tun sind.

Julian blickt fassungslos auf meine zerstörten Gliedmaßen, das Blut, das auf den Boden tropft. Wie sich eine Pfütze bildet.

„Aber", sagt er „ ... warum hast du denn nie ..."

Eine Träne läuft seine Wange hinunter, die bald zu mehr wird. Hemmungslos lässt er all die Trauer in einen Wasserfall fließen. Schließlich fällt er auf die Knie, wirft die Waffe weg. Ich hasste erneut auf ihn zu und vergrabe mich in seinen Locken, wie ich es schon so viele Jahre tun wollte. Was gleich folgen wird, will ich nicht wissen. Nur Julians Nähe spüren und in diesem Moment versinken. Und zum ersten Mal bin ich bereit, auf alles zu verzichten und fühle mich einfach ganz.

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