Sie wusste sofort, wo sie sich befand. Und dass sie nicht hier sein wollte. Die gewaltigen Häuser um sie herum wirkten abweisend und bestanden aus reinem Nebel. Sie wären kein Schutz gewesen, selbst wenn sie sich aus ihrem Trott hätte lösen können. Sie kam sich einsam und verloren vor. Sie wusste, dass dieser Ort in Wirklichkeit viel freundlicher war. Belebt und schön.
Sie berührte die glitschige Rinde eines Baumes. Es fühlte sich wie ein kalter Schock an. Wie Soldaten säumten die Bäume den engen Weg des Parks, durch den sie jetzt ging. Die Pflanzen würden jeden noch so grauenhaften Befehl ausführen, um sie am Stehenbleiben zu hindern.
Ohne jegliche Kontrolle bog sie am Ende des Pfads nach links ab. Auch nach so vielen Nächten hatte sie nicht die Oberhand. Hier waren andere Mächte am Werk. Wie üblich bildete sich am Ende des Weges ein goldenes Tor. Es war die reine Kristallisierung der menschlichen Sehnsucht und ihren Wünschen. Rubine, Smaragde und Diamanten waren zu ihrem Leid eingelassen worden. Durch die vielen verschiedenen Farben sah der Durchgang fast wie ein Regenbogen aus. Ein Regenbogen mit der Aufschrift: ab amor et dolor. Durch Liebe und Schmerz. Eine wunderschöne Lüge, das ganze Tor. In Wirklichkeit war eine Kutsche vorgefahren aus der er gestiegen war.
Einen Moment lang bewunderte sie das Tor und verabscheute es gleichzeitig. Dann wurde sie plötzlich von einem gleißenden Licht umhüllt.
Sie stand mit dem Mann ihrer (Alb)Träume auf einer Wiese. Sie trug ein weißes Kleid. Es reichte kaum bis zu den Knien, was ihre Mutter in helle Aufruhr versetzte. Sie sah aus wie ein Storch ohne Flügel, aber es war ihm egal. Sie fühlte sich frei und glücklich. Sie genoss die Zeit mit ihm. Sie vergaß wieso sie hier war. Er tanzte mit ihr über sanftes Gras, vierblättrige Kleeblätter und Gänseblümchen. Tiere aus dem Wald, Hasen, Eichhörnchen, Spechte, Spatzen und sogar ein paar Dachse und Marder, tanzten um sie Ringelrein und sangen:
Fried und Freud, Fried und Freud,
Fridihallala ...
Bevor die Szene in peinlichem Kitsch versank, fielen alle Waldwesen tot um, verschimmelten sofort und Fliegenschwärme schwirrten um sie herum. Geschockt und angeekelt von diesem Bild erkannte sie wieder, dass sie zu ihrem eigenen Elend hier war. Sie versuchte wegzulaufen, doch sie konnte sich nicht bewegen. Im nächsten Moment verlor sie den Boden unter den Füßen und versank in unendlicher Dunkelheit.
Sie landete in einer dunklen Gasse. In der Gasse. Sie war mit ihren tiefsten Ängsten genauso verschmolzen wie er. Sie wünschte sich mit jeder Faser ihres Körpers nicht hier zu sein, aber es half nichts. Da bog er auch schon um die Ecke. Eigentlich war sie froh gewesen ihn zu sehen, aber nun wusste sie, was als nächstes passieren würde.
»Ich habe Sie überall gesucht«, sagte er, während er mit einem grausamen Lächeln auf sie zu ging.
»Verschwinden Sie!«, wollte sie schreien, aber ihre Kehle war so fest verschlossen, wie es nur mit einem Schweißgerät möglich ist.
»Ich wollte«, fuhr er fort, »Ihnen etwas zeigen. Deshalb habe ich Sie so spät kontaktiert.«
Damals hatte sie gehofft, dass er einer der moderneren Männer war. Diese, die das siezen nach der Hochzeit ablegten. Doch er hatte sie bitter Enttäuscht. So bitter wie das Riechsalz ihrer Mutter salzig war.
Er zog eine lange Peitsche aus hervor.
»Was ist das?«, hatte sie beim ersten Mal gefragt. Sie kannte nur die viel dünneren Gerten mit denen Kutscher ihre Pferde antrieben.
»Ein Zauberstab«, hatte er geantwortet. »Er kann Menschen dazu bringen, Dinge für einen zu tun, für die man mittellos ist.«
Doch jetzt fragte er: »Wissen Sie, was das ist?«
Er ließ sie zu keiner Antwort kommen. Er holte mit der langen Geißel aus und schlug auf sie ein. Schon der erste Schlag schien Luzifer persönlich zu sein. Jeder weitere vergrößerte ihre Qual nur noch. Sie fühlte, wie sich ihre sonnenscheue Haut Stück für Stück in rohes Fleisch verwandelte. Immer und immer wieder fuhr die glühende Peitsche auf sie herab. Die Welt schaltete sich ab. Sie wollte ihre Schmerzen hinter sich lassen. Sie wollte, dass es aufhörte. Ob durch Rettung, Ohnmacht, Tod. Es sollte einfach aufhören. Dies war die Türschwelle des Wahnsinns, er öffnete bereits seine Tore für sie ...
Doch dann hörte es schlagartig auf.
Ruckartig fahre ich hoch. Ich ringe nach Luft. Dann schaue ich mich ängstlich im Zimmer um. Die dunklen Schatten scheinen ihn ohne Probleme schlucken zu können. Jetzt kann ich seinen Namen ruhig nennen. Thomas Brighton. Ein gutaussehender Anwalt aus London. Ich hatte mir Hoffnungen gemacht, ihn zu heiraten. Als er mir sagte, dass er mich in der Sleeping Allee sehen wollte, hatte ich wirklich gehofft, er würde mir einen Ring anstatt dieser furchtbaren Geißel mitbringen. Ich hatte mich irgendwie unbemerkt aus dem Haus geschlichen und war per Kutsche nach London gefahren. Wie ich das unbemerkt zu Stande gebracht habe, weiß ich bis heute nicht. Man ließ nach mir suchen und las mich schließlich in einem schrecklichem Zustand aus einer Seitengasse. Seit dem muss ich jede Nacht erneut kämpfen und leiden. Ein aussichtsloser Kampf mit meinem Verstand.
Immer noch umhüllt von den Nachwehen des Albtraums ziehe ich meinen Morgenmantel über, zünde die kleine Öllampe auf dem Nachttisch an und setze mich an meinen Schreibtisch. Nachdem ich meinen Traum aufgeschrieben habe, versuche ich wieder einzuschlafen, aber es bringt nichts. Sobald ich auch nur ansatzweise wegdämmere, sehe ich die nebligen Häuser. Also schleiche ich, auf leisen Sohlen, in die Bibliothek. Ich ziehe irgendeinen Schmöker aus dem Regal und setze mich in einen Ohrensessel. Erst dann schaue ich mir das Buch genauer an. Ich kenne es noch nicht. Es ist von Olympe de Gouges und es heißt »Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin«.
Es dreht sich um Dinge, die ich kaum kenne. Frauen könnten arbeiten. Sie müssen sich Männern nicht beugen. Sie sollen mehr sein, als nur Objekte zum Ansehen, Kinder bekommen und Gesellschaften halten.
Inspiriert und müde gemacht schlafe ich im Sessel schließlich ein.
Sie wusste sofort, wo sie sich befand. Doch diesmal war es anders. Sie stand sofort in der Gasse. Thomas stand vor ihr. Die Peitsche erhoben. Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ich bin nicht mehr das kleine Mädchen von damals«, sagte sie.
Er holte mit der Geißel aus, doch sie wich einfach zur Seite. Dann nahm sie ihm die Peitsche ab und warf sie weg. Sie löste sich augenblicklich in Nebel auf.
»Frauen verdienen Respekt«, erklärte sie.
Dann verschwand das ganze Bild.
Ich wache auf. Aber es fühlt sich nicht an, wie aus der Höllenglut zu steigen. Zum ersten Mal seit zwei Jahren fühle ich mich ausgeruht und frisch. Durch die Fenster der Bibliothek sehe ich das Licht des Sonnenaufgangs. Leuchtend und voll. Kalt und klar. Und genauso fühle mich.
Ich spüre, dass es Zeit für einen Neuanfang ist.
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keyholes
Short StoryKurzgeschichten sind nur ein Hauch. Ein Blick durchs Schlüsselloch auf Tod und Leid und Liebe und Magie. ___________________________________ Cover made by myself.