Scarlet

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Schon seit einer halben Stunde sitzt sie dort und tut nichts.
Bleiche Haut, einzelne Sommersprossen.
Ein belebter
Marktplatz,
die halbe Kleinstadt kauft hier heute ein.
Die mittelmäßig hübsche Frau könnte, wie alle anderen, die Zeit nutzen und sich neue Pullover für den kommenden Herbst kaufen.
Sie könnte auch die Wärme nutzen, und ein überzuckertes Eis hinter ihren glänzenden Lippen verschwinden lassen.

Aber nein, sie sitzt seit einer halben Stunde an Rand des verwilderten Blumenbeetes und beobachtet ihre Umgebung.
Fast, als würde sie auf jemanden warten. Jemanden, der ihr viel bedeutet, aber nicht gewillt ist, hier aufzutauchen.

Immer enttäuschter wird ihr Blick.
Man müsste sich zu ihr setzen, sie aufmuntern und dafür sorgen, dass sie die letzte Sommersonne noch genießen kann.

Doch so langsam wandert der Schatten des alten Gebäudes im barocken Stil in ihre Richtung und lässt sie frösteln.

Alle anderen stehen auf gusseisernen
Balkonen,
in rosaroten Cafés und auf warmen Bordsteinkanten.
Leise verklingende Gespräche über Gott und die Welt
erheben sich schwerfällig
durch die altstädtischen Gassen
in den wolkenlosen Himmel und lösen sich dort auf wie eine verirrte
Schleierwolke.

Jetzt ist sie kurz davor, aufzustehen und wieder zu gehen, da fällt ihr Blick
auf einen Jungen,
der den Arm
um einen blondgelockten
Engel gelegt hat.
Liebevoll lächelt die junge Frau und steht tatsächlich auf.
Die beiden sitzen mit dem Rücken zu ihr auf den Stühlen eines Cafés.
Auf Zehenspitzen bewegt sie sich in ihre Richtung, damit ihre Absätze auf dem Pflaster keine Geräusche machen.

Nun steht sie direkt hinter den beiden und wartet.
Als sie eine Pause im Gespräch  machen und andächtig
ins nichts blicken, legt die junge Frau mit einer plötzlichen
Bewegung ihre Hände
auf die Schultern
beider.

Sie zucken zusammen. Völlig unerwartet kam diese Berührung.

Doch schnell
hat er sich wieder gefangen.

„Marie, das ist meine Schwester Scarlett.
Scarlett, das ist Marie aus der 4a.“

Einen Smalltalk später entfernt sie sich, jetzt wieder mit einem Lächeln auf den Lippen.
Vergessen ist die nicht aufgetauchte, unbekannte Person, jetzt ist da nur noch die Freude über das Glück des kleinen Bruders.

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