Hände

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,,Mais tu ne va pas comprendre moi, Monsieur Valtersen!"
Even grinste mich an.

,,Hä?" fragte ich und schaute ihn an.
Französisch hatte ich nicht so drauf.

,,Ich habe gesagt, dass du mich nicht verstehen wirst, Isak", meinte Even lachend und schrieb etwas von der Tafel ab.

,,Ha ha, sehr witzig", sagte ich und zog die Augenbrauen hoch.

Er hatte winzig kleine Lachfältchen um die Augen, wenn er lachte. Jedes Mal faszinierten mich diese Details.

Ich musste wieder an das Gespräch von gestern mit Jonas denken. Könnte das stimmen? Dass Even schwul war? Bis jetzt verhielt er sich ziemlich... normal.
Allerdings hatte er schon jede Menge Blicke von Mädchen und, wenn ich mich nicht irrte, auch von Jungs geerntet.
Aber bis jetzt hatte er noch nicht von einer festen Freundin oder einem festen Freund erzählt.

Die Lehrerin schrieb gerade etwas an die Tafel mit der Anweisung, es abzuschreiben.

Meine Handschrift war kraklig und nicht sehr schön. Ich riskierte einen Blick auf Evens Heft und musste mit Bedauern feststellen, dass seine Handschrift schön geschwungen war und kein einziger Tintenfleck das Blatt bedeckte.

Dann sah ich auf seine Hände. Er hatte lange, dünne Finger und seine Hand war von Venen durchzogen.
Klar, meine auch, aber seine konnte man klar erkennen.

Even hielt inne und sah mich an. Bevor ich wieder den Fehler machte und in seine Augen sah, was mich jedes Mal faszinierte, schaute ich schnell wieder auf mein Heft.

Ich wusste nicht mal, was ich abschreiben sollte.
Even sah mich immer noch an.
Wieder kribbelte es am ganzen Körper.

Endlich wandte er seinen Blick ab und ich konnte aufatmen.

Aus dem Augenwinkel sah ich seine rosigen Wangen.
Sie waren rosiger als sonst.

Nahm ihn diese Spannung zwischen uns genauso mit wie mich?

Mir fiel ein Stein vom Herzen, als es endlich klingelte und die Stunde zu Ende war.

Wir hatten jetzt Schule aus. Even packte seine Sachen ein, ohne mich nochmal anzuschauen, doch als er ,,Wir sehen uns" sagte, warf er mir einen Blick zu, der mich förmlich umhaute.

Wie in Trance sah ich zu, wie er zur Tür ging und sich mit einem selbstbewussten Lächeln die Tasche um die Schultern legte.

Immer noch geschockt richtete ich jetzt auch meine Sachen. Als ich vor der Tür stand, musste ich erstmal runterkommen.

Ich ging auf die Toiletten und rieb mir kaltes Wasser ins Gesicht.
Mein Spiegelbild sah mich völlig ausdruckslos an.

Warum nahm mich die Nähe zu Even so mit?
War ich etwa schwul? Aber ich stand doch auf Mädchen?
War ich etwa in Even verliebt?
Oder hatte er einfach eine gewisse Aura, die mich diese Dinge fühlen ließ?

Ich seufzte innerlich. All diese Fragen, auf die ich keine Antwort hatte.

Ich warf mir den Rucksack über und machte mich auf den Weg zum Bus.

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Meine Uhr zeigte 21:21 an. Ich konnte nicht schlafen. Noch immer beschäftigten mich all diese Fragen.

Ich nahm mein Handy und suchte nach 'Even'. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich noch nicht mal seinen Nachnamen kannte.

Ich scrollte die Suchergebnisse nach unten. Nichts. Keine Social-Media-Accounts von einem Even.
Es war, als existierte er gar nicht im Netz.

Ich legte mein Handy weg und dachte weiter nach. Eigentlich wusste ich überhaupt nichts von ihm, weder seinen vollen Namen noch seine alte Schule, geschweige denn seine Familie.

Vielleicht würde ich morgen mehr über ihn herausbekommen.

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"Ich werde euch jetzt in Zweiergruppen einteilen. Eure Aufgabe ist es dann, ein Referat über ein Thema eurer Wahl zu halten, das mindestens zwanzig Minuten lang sein muss." sagte Herr Stihl und klappte sein Büchlein auf, wo die Namensliste stand.

Ich stöhnte und rieb mir die Augen. Letzte Nacht hatte ich zwei, vielleicht drei Stunden Schlaf bekommen, und jetzt so eine blöde Aufgabe.

,,...also, ich wähle jetzt nach Zufallsprinzip aus: Sætre, Sie arbeiten mit Hellerud zusammen, Vasquez  mit Mohn, Valtersen mit Bech Næsheim...."

Ich sah mich suchend um. Wer zur Hölle war "Bech Næsheim"?
Even grinste mich an.
"Wie es aussieht, arbeiten wir wohl zusammen", meinte er.

Ich sah ihn fragend an. ,,Du bist 'Bech Næsheim'?"

,,Natürlich." Even sah mich gespielt entrüstet an. ,,Du wusstest nicht mal meinen Nachnamen? Wie könntest du mich dann googeln?" Er lachte.
,,Spaß, wieso solltest du mich auch googeln."

Ich wurde rot. ,,Ja, wieso auch..." Wenn er nur wüsste...

,,Also, was sollen wir für ein Thema vorstellen?" Even lehnte sich zurück und überließ mir die Führung.

,,Ich weiß nicht, ich dachte da eher so an was Psychisches."

Even zog eine Augenbraue hoch.
,,Etwas 'Psychisches'?"

,,Ja, also im Sinne von etwas menschlichem oder persönlichen, keine Stadt oder so."

Even legte seine Hände auf den Tisch.
,,Und was schwebt dir da so vor?"

Ich dachte kurz nach. Ich hatte neulich einen interessanten Artikel gelesen.

,,Bipolare Störungen", sagte ich direkt.

,,Bipolare Störungen",wiederholte er fragend.

Für den Bruchteil einer Sekunde schien ihm seine Miene zu entgleiten, doch kurz darauf hatte er sich wieder gefasst.

,,Wieso ausgerechnet dieses Thema?"

,,Ehrlich gesagt weiß ich das auch nicht so genau, ich habe irgendwo etwas darüber gelesen, und naja...es hat mich eben interessiert", meinte ich.

Er schien kurz darüber nachzudenken.

,,Kennst du denn bipolare Personen?" fragte ich ihn unschuldig.

Er sah mir direkt in die Augen.
Er schien mir etwas mitteilen zu wollen, doch ich verstand nicht was.

,,Nein...nein, bis jetzt noch nicht." sagte er zögernd.

,,Okay, dann ist ja gut. Oder hättest du einen anderen Vorschlag?"

,,Nein, ich finde es sinnvoll dieses Thema den Leuten nahe zu bringen", sagte er und richtete sich auf.
,,Sollen wir uns dann irgendwann mal nachmittags treffen?"

Damit hatte er mich leicht überrumpelt. Even treffen? Nur wir beide? Alleine?

,,Ja, ja k-klar, vielleicht nächsten Donnerstag?", stotterte ich und wurde schon wieder rot.

Even grinste. ,,Gut, dann wäre ja alles abgemacht. Bis Donnerstag. "

Er warf sich die Tasche über die Schultern und ging ohne einen Blick zurück aus dem Raum.

Even alleine treffen? Das könnte ja noch lustig werden.

Weak || Wattys 2017Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt