6 Wochen Dunkelheit

7 0 0
                                    

Die ersten Sonnenstrahlen kitzelten Audrina in der Nase. Sie drehte sich noch einmal auf die andere Seite, als sie von weitem das Krähen eines Hahnes vernahm. Genervt öffnete sie ihre Augen und hätte sie bei dem Chaos, das sie erblickte, am liebsten direkt wieder geschlossen. Ihre Höhle war ein einziges Durcheinander. Teller und Töpfe lagen auf dem Boden herum, ebenso wie lose Blätter und Staub, die durch die morsche Tür mit dem Wind hereingetragen wurden. „Was für ein Durcheinander", murmelte sie und setzte sich auf. Audrina rieb sich den Schlaf aus den Augen und kratzte sich dabei mit ihren inzwischen viel zu langen Krallen an der Nase. „Darum sollte ich mich auch noch kümmern." Sie hievte sich aus dem Bett und ging hinüber zu dem Tonkrug. Beim Anheben bemerkte sie, dass er leer war. „So ein Mist! Ich komme bestimmt am ersten Tag zu spät." Hastig trat sie vor die Tür und machte sich auf den Weg zum nahe gelegenen Bach. Als Audrina sich über das Wasser beugte, erschrak sie. Der orangene Haarschopf, der normalerweise in einem hübschen Kontrast zu ihrer grasgrünen Hautfarbe stand, war ziemlich lang und verfilzt. Außerdem hatte sie tiefe, dunkelgrüne Ringe unter den Augen und sah irgendwie abgemagert aus. Hastig spritzte Audrina sich etwas Wasser ins Gesicht. Schließlich holte sie Luft, zählte bis drei und stieß ihren ganzen Kopf in das eiskalte, klare Wasser. Prustend tauchte sie wenige Sekunden später wieder auf. Jetzt war sie wach. Sie strich sich die langen Strähnen aus dem Gesicht, griff nach dem Krug und füllte ihn mit Wasser.
Zurück in ihrer Höhle suchte sie nach den Resten des getrockneten Fleisches, das sie die letzten sechs Wochen auch schon gegessen hatte, schnitt sich den Haarschopf und feilte ihre Krallen auf eine angemessene Länge. Dann machte sie sich auf den Weg nach Fuchseck.

Das kleine Dorf lag etwas weiter unten im Tal, dort, wo die Berge nicht ganz so dicht beieinanderstanden und etwas mehr Licht den Erdboden erreichte. Am anderen Ende lag die große Kreidefabrik, für die die meisten Bewohner von Fuchseck arbeiteten. Das Dorf war klein, die Gassen zwischen den Steinhäusern eng. Hinter den meisten Fensterläden brannte bereits Licht. Doch die Straßen waren leer. Das bedeutete, dass die Schicht in der Fabrik bereits angefangen hatte. Zum Glück muss ich nicht so früh auf den Beinen sein, dachte Audrina. Sie bog in eine Seitengasse ab, die in Richtung eines kleinen Nadelwaldes führte, der sich an den Berghang schmiegte. An dessen Seite lag die Schule von Fuchseck. Von weitem konnte sie das alte Backsteingebäude bereits sehen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sechs Wochen Dunkelheit waren vorbei. Die Müdigkeit des Morgens schien mit einem Mal von ihr abzufallen. Man konnte fast sagen, dass sie sich plötzlich auf den Tag freute. Auf dem kleinen Platz vor der Schule befanden sich bereits jede Menge Trollkinder. Einige alleine, etwas schüchtern, andere vergnügt beim Fangenspielen. Audrina blieb für einige Sekunden am Zaun stehen und beobachtete das Treiben, bis eines der Trollkinder sie entdeckte. »Frau Gilby! Frau Gilby! Sind sie auch dieses Jahr wieder unsere Lehrerin?« Grinsend kam das Mädchen, Lallei, auf sie zu. Ihr knallroter Haarschopf hüpfte auf und ab. Audrina beugte sich zu ihr hinunter. »Nein, leider nicht, Lallei. Ich bekomme eine neue erste Klasse.«
»Oh, das ist aber schade. Wen bekommen wir dann?«
„Hm, ich glaube, Herr Gerds ist dieses Jahr für die Dritte zuständig."
»Okay. Herr Gerds ist auch in Ordnung.«
Mit den Worten drehte sie sich um und rannte zu ihren Freundinnen.
Nach einem kurzen Abstecher ins Lehrerzimmer kehrte Audrina mit einem großen Marienkäferschild zurück auf den Schulhof. Einige der älteren Schüler waren bereits in das Gebäude gegangen, so dass es auf dem Hof langsam etwas übersichtlicher wurde.
»Alle Erstklässler hierher zum Marienkäferschild!«, rief sie in die Runde. Sofort kamen zwei Trolljungs angerannt und blieben abrupt vor ihr stehen. »Sind sie unsere Lehrerin?«
»Ja, die bin ich.«
»Cool. Was machen wir heute?«
»Wir lernen uns heute erstmal alle kennen.«
Der Junge grinste. »Ich kenne schon fast alle. Das ist Marry, das da Torb, der da Jugge, sie heißt Jara, Tomme, Ilk ...« Audrina versuchte, dem Jungen zuzuhören und gleichzeitig die anderen Kinder, die sich um sie versammelten, im Auge zu behalten.
»...Eli, Kolle ...«
»Super, das finde ich ja klasse, dass du so viele Kinder schon kennst. Und wie heißt du?«
»Jark.«
»Okay, Jark.« Er plapperte munter weiter, während sie in Gedanken die Trollkinder, die um sie herumstanden, noch einmal durchzählte.
»Alles klar, wir sind vollzählig. Dann lasst uns mal rein gehen.«
Siebzehn Kinder folgten ihr in die Schule. »Um euer Klassenzimmer zu finden, müsst ihr nur auf die Bilder über den Gängen achten.« Die Trollschule war zwar klein, aber verwinkelt. Wie jedes Jahr erklärte sie den Kindern die Gänge: Erst den Fledermausgang, dann den mit dem Luchs, dann durch die Tür mit dem Raben.
Die meisten Kinder nickten schüchtern. Zwar war es überall in Fuchseck dunkel, da die Sonne nur für kurze Zeit zwischen den Steilhängen auftauchte, aber die Schule mit ihren vielen verwinkelten Gängen flößte den meisten Grundschülern Respekt ein. »Könnt ihr mir sagen, wie wir hierhergekommen sind?«
Ein Trollmädchen mit einem geflochtenen, blonden Haarschopf und Sommersprossen auf der für Trolle sehr blassgrünen Haut, meldete sich und nannte ihr die richtige Antwort.
»Richtig!« Audrina klatschte erfreut in die Hände. Das Mädchen senkte schüchtern den Kopf.
»Nevia ist ein Streber!« Rief Jark.
»Hey, Jark, sowas sagt man doch nicht.« Der Junge schien von ihrer Maßregelung jedoch unbeeindruckt und grinste nur.
Dann lotste sie die Kinder in das Klassenzimmer.
»Okay, bevor ihr euch alle einen Sitzplatz sucht, würde ich sagen, machen wir erstmal ein Kennenlernspiel. Dafür müssen wir erstmal alle Tische auf die Seite schieben.«
Mit großem Eifer stürzten sich die Kinder auf die schweren Holztische und rückten sie an die Wände.
»Super habt ihr das gemacht!«
Schnell erklärte sie das erste Spiel: Sich gegenseitig Bälle zuwerfen und wer ihn fängt, sagt seinen Namen.
»Ich fange an. Mein Name ist Frau Gilby.«
Eine Weile ging es reibungslos hin und her. Wobei Audrina bei Jark das Gefühl bekam, er wolle seine Gegenüber abschießen. In jeder Klasse gab es einen Draufgänger. Aber genau das war es, was Audrina an diesem Job liebte. Viele verschiedene Kinder, die alle unterschiedliche Zuwendung benötigten.
Als Torben den Ball seinem Gegenüber, einem Mädchen namens Jara, zuspielen wollte, warf er etwas daneben. Das Trollmädchen neben ihr, Nevia, das eine erstaunlich zierliche Figur für einen Troll hatte, machte einen Schritt nach links, um ihr mehr Platz zum Fangen zu geben. In dem Moment flog der Ball plötzlich im rechten Winkel nach links zur Seite und landete vor Audrinas Füßen. »Huch, was war das denn? Der hatte aber einen ordentlichen Drall.«
Nevia schaute betreten zu Boden. »Tut mir leid«, piepste das Trollmädchen.
Audrina runzelte die Stirn.
»Wieso denn? Da kannst du doch nichts dafür! Du hast den Ball ja nicht mal be-rührt.«
Nevi sah aus, als wolle sie etwas sagen, doch dann zuckte sie nur mit den Schultern.
»Okay ihr lieben. Jetzt machen wir es ein bisschen schwerer. Wenn ihr jetzt den Ball werft, sagt ihr nicht euren eigenen Namen, sondern den Namen dessen, dem ihr den Ball zuwerft. Okay?«

Nevia und das Geheimnis der ElfenmagieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt