Trotz dem hellen Sonnenschein und wolkenklarem Himmel war es bitterkalt. Audrina hatte ihren Mantel eng um sich geschlungen, als sie den gepflasterten Weg zur Schule entlang schritt. Schon von Weitem hörte sie das Kindergeschrei. Als sie den Schulhof durch das kleine Gartentor betrat, freute sie sich über das lebhafte Getümmel um sich herum. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Doch dann sah sie auf der Mauer, welche das Grundstück umgab, ein einsames Trollmädchen sitzen. Es war Nevi. Während alle anderen wild über den Schulhof tobten, saß sie nur ruhig da, beobachtete die übrigen Kinder und wackelte hin und wieder mit ihrem Fuß hin und her. Audrina wollte gerade hinüber gehen und sie fragen, ob alles okay war, als sie sah, wie ein anderer Trolljunge auf sie zukam. Eli tat so, als würde er zufällig bei ihr vorbei laufen. Doch Audrina hatte genug Erfahrung, um genau zu wissen, dass er sich möglichst beiläufig zu ihr gesellen wollte. Sie blieb stehen, um das Ganze zu beobachten. Als Eli an der Mauer, recht nahe bei Nevi angekommen war, sah er zunächst zu Nevi auf, betrachtete dann die Mauer, als sei sie etwas besonders Exotisches, das er noch nie gesehen hatte, drehte sich dann um, stützte sich mit beiden Armen ab und hüpfte auf die Mauer. Nevi lächelte ihm vorsichtig zu. Audrina grinste in sich hinein. Wenigsten hatten die beiden sich gefunden, wenn sie schon keinen Anschluss an die anderen hatten. In den meisten ihrer Klassen hatte es Außenseiter gegeben. Sie freute sich immer darüber, wenn die Einzelgänger nicht alleine blieben, sondern sich wenigstens untereinander verstanden und vielleicht auch unterstützten. Umso weniger sie sich als Lehrerin einmischen musste, desto besser. Das machte es für die Kinder nämlich meistens nicht einfacher. Die Lehrerin auf seiner Seite zu haben galt nie als besonders cool. Obwohl sie stolz darauf war, behaupten zu können, eine der beliebtesten an der Schule zu sein. Zumindest bei den Kindern. Im Lehrerkollegium sah das ganz anders aus. Dort gehörte Audrina zu den Außenseitern.
Als sie sich versichert hatte, dass bei den Beiden alles in Ordnung war, machte sie sich auf den Weg in ihr Klassenzimmer. Sie wollte noch einige Vorbereitungen treffen, bevor die Kinder in den Unterricht kamen. Schon bevor sie von dem Fledermaus- in den Luchsgang einbiegen konnte, hörte sie ein metallisches Quietschen. »Oh, Gott sei Dank!«, murmelte sie vor sich hin. Als sie um die Ecke bog, sah sie gerade noch den Umriss eines kleinen Wesens mit buckeligem Rücken, der sich in das Rabenklassenzimmer schob. Sie folgte der Gestalt. »Guten Morgen Krekka.«
Die Kreatur drehte sich zu ihr um. »Hä grrrr Morrrgen.« Sie zog ihre Mundwinkel nach Außen, wodurch ihre langen Hauer entblößt wurden. Ein scheußlicher Anblick. Doch Audrina war eine der wenigen, die das Goblinlächeln überhaupt zu sehen bekamen. Die übrigen Kollegen schauten auf die Dienstgoblins eher verächtlich herab. Diese säuberten nachts die Gänge, leerten die Mülleimer und wischten die Tafeln richtig sauber. Mit den Schwämmen war es zwar möglich, einen Großteil der Kreide zu entfernen, aber eine dünne Staubschicht blieb immer haften. Krekka schob ein Eisengestell vor sich her, in welchem sich mehrere Kanister befanden. Sie parkte den Wagen vor einem Tisch, der an der Seite des Klassenraumes stand, nahm einen Behälter vom Gestell und hievte ihn auf den Tisch. „Vielen Dank, Krekka. Ohne dich müssten wir heute ganz schön frieren. Der Tee wird uns guttun."
Die Schule war zwar beheizt, aber an Tagen wie diesen kamen gerade die Kinder, welche etwas außerhalb wohnten ziemlich durchgefroren an. Ein warmes Getränk war da die schnellste Abhilfe.
»Mhm mhm jeeeaaaa«, das fiese Goblinlächeln erschien wieder auf ihren Lippen, als sie ihren Wagen mit den übrigen Teebehältern packte und unter grässlichem Quietschen an Audrina vorbei zog. »Schönen Tag noch!«, rief sie dem Goblin hinterher.
Zum Gruß hob Krekka ihren freien Arm und verschwand im Flur. Audrina lief hinüber zum Schrank, um die Tassen vorzubereiten. Als sie Tassen für alle Kinder auf das Tuch neben dem Teespender gestellt hatte, klingelte es. Bereits wenige Sekunden später hörte sie Schritte auf dem Gang. Die Schüler durften das Gebäude erst nach dem Glockenton betreten, damit die Lehrer vorher in Ruhe arbeiten konnten. Eigentlich hatte Audrina ihre Klasse draußen abholen wollen. Doch da sie nun eh schon zu spät dran war, wartete sie ab, ob alle den Weg ins Klassenzimmer fanden. Der Erste, der hereinkam, war Jark. Er entdeckte den Teekanister und steuerte direkt darauf zu. »Oh wie cool. Mir ist so kalt. Darf ich eine Tasse Tee haben?«
»Ja na klar, bedien dich.« Kurz darauf kamen die nächsten kleinen Trolle ins Klassenzimmer gefegt und stellten sich hinter Jark für ein heißes Getränk an. Ganz zum Schluss kamen auch Nevi und Eli nebeneinander herein geschlendert. Audrina war zufrieden, als sie feststellte, dass alle den Weg bereits am zweiten Schultag gefunden hatten.
Nacheinander ließen die Kinder den süßlich duftenden Winteriseltee aus der Kanne heraus und setzten sich dann fröhlich plappernd an ihre Tische. Als vorletztes kam Nevi an die Reihe. Sie stellte ihre Tasse unter den Ausguss und drückte auf den Griff. Sofort strömte die goldgelbe Flüssigkeit in ihren Becher. Als sie sich mit ihrer vollen Tasse umdrehte, um sich an ihren Platz zu setzen, klirrte es hinter ihr. Sofort wurde es still. Alle starrten Nevi an. Die letzte Tasse, die noch für Eli dort gestanden hatte, lag zerbrochen auf dem Boden. Dann begannen die Schüler zu lachen. Nevi senkte den Kopf und sah betreten zu Boden. Audrina runzelte die Stirn, denn eigentlich war Nevi viel zu weit weg gewesen, um die Tasse umzuschmeißen. »Okay, beruhigt euch. Ist doch nichts passiert.«
»Tut mir leid«, brachte Nevi gedrückt hervor.
»Aber nein. Ist doch kein Problem. Sowas kann vorkommen.«
Nevi wandte sich an Eli und streckte ihm ihre Tasse hin. »Hier. Du darfst meine haben.«
»Nein, nein, das ist nicht nötig. Es sind noch Tassen im Schrank«, meinte Audrina beschwichtigend und holte eine weitere Tasse heraus. »Hier, Eli. Nimm die.«
Als Nevi auf ihrem Platz saß, hörten die meisten Schüler auf zu lachen. Aber einige schauten immer noch hämisch grinsend in Nevis Richtung.
Als auch Eli seine Tasse gefüllt hatte, wurde es ruhig.
»Was machen wir heute?« Brüllte Jark in die Klasse.
»Hm, Jark, was habe ich euch gestern erklärt, wie das mit dem Melden funktioniert?«
Genervt streckte Jark seine rechte Pranke in die Luft.
»Ja, Jark?«
„Was machen wir heute?"
»Wir beginnen erstmal mit einer Vorstellungsrunde, in der jeder ein bisschen mehr von sich erzählt.«
Audrina hatte festgestellt, dass es geschickter war, diese Vorstellungsrunde auf den zweiten Tag zu verlegen. Am ersten Tag waren die Kinder meistens so aufgeregt, dass sie kaum länger als 10 Minuten sitzen bleiben konnten. Also nutzte sie den ersten Tag immer dazu, mit den Kindern hinaus zu gehen, sie zu beobachten und sich gegenseitig ganz locker etwas kennenzulernen. So konnte sie sich schon einen guten Eindruck machen, wer sich mit wem gut verstand und wer eher vorlaut oder schüchtern war. Außerdem fiel den Kindern das Reden vor der ganzen Klasse am zweiten Tag, wenn sie sich schon ein bisschen kannten, viel leichter.
»Wer mag den anfangen?«
Jark meldete sich sofort. Audrina wartete einen Moment ab, ob auch noch ein anderes Kind den Mut fasste, zu beginnen. Nachdem sich aber niemand meldete, nahm sie Jark dran.
»Also. Ich bin der Jark Grunnta. Ich bin 6 Jahre alt. Wir wohnen hier in Fuchseck in einem Steinhaus gleich bei der Hauptstraße. Mein Papa arbeitet im Kreidesteinbruch als Vorarbeiter und muss da immer aufpassen, dass alle das Richtige tun und keinen Blödsinn machen. Meine Mama arbeitet auch im Kreidesteinbruch und wiegt die kaputt gehauene Kreide.«
Bei dem Ausdruck musste Audrina innerlich grinsen. Er meinte die kleinen Kreidebrocken, die in dieser Form gewogen und dann auf Karren geladen wurden. Diese wurden dann über ein Schienensystem von Marmorochsen in die Fabrik gezoge. »Außerdem mag ich am liebsten Gorkiziege mit Wildkartoffeln und Bessmakraut. Meine Lieblingsfarbe ist Steingrau und mein Lieblingstier ist der Bär.«
»Super Jark!«, ging Audrina dazwischen, als er kurz eine Redepause machte. Das klingt sehr interessant. »Hat jemand eine Frage an Jark?«
Sie wusste, dass er vermutlich ewig reden würde, wenn sie nicht dazwischen ging.
Lilla meldete sich in der zweiten Reihe. »Ja, Lilla?«
»Hast du Gorkiziege schonmal gekocht?«
»Nein, das macht meine Mama«, antwortete Jark.
Nach einigen weiteren Fragen nahm Audrina den nächsten Schüler dran.
Als beinahe die ganze Klasse fertig war mit Erzählen, blieben nur noch Eli und Nevia übrig.
»Wer von euch mag weiter machen?«, fragte Audrina an die beiden gewandt. Sie sahen sich unsicher an, dann räusperte Eli sich.
»I...ich bin E...Eli.«, fing er an, während er stur auf seine Hände blickte und an seinen Krallen herumzupfte. »Ich b...b... bin auch sechs. M...mein V...v...v...Vater arbeit...t...tet...«
In der Klasse fingen einige an zu kichern.
»Hey, das ist nicht fair.« Audrina wandte sich zu den Trollmädchen um, die am lautesten gegackert hatten. »Lasst Eli in Ruhe ausreden.« Aufmunternd nickte sie ihm zu. »Ist okay. Mach weiter.«
»M...mein Vater ar...arbeit...tet auch im St...t...teinbruch.« Der Junge wurde sichtlich nervös.
»Okay Eli. Und was macht deine Mutter?« Audrina beschloss, es ihm ein wenig leichter zu machen, indem sie Fragen stellte.
»Floßf...f...fahrerin.« Die fertige Tafelkreide, aber auch Bausteine aus dem anderen Steinbruch, wurden mit Flößen flussabwärts transportiert und in die umliegenden Gegenden als Schul- und Baumaterial verteilt.
»Okay. Und was ist deine Lieblingsfarbe?«
»Weißgrau.«
»Haha, Eli steht auf eine Mädchenfarbe, Mädchenfarbe«, platzte Jark dazwischen.
»Jark, das reicht. Ich habe dir schon mehrfach gesagt, dass du andere nicht Aulachen sollst. Beim nächsten Mal bekommst du eine Strafarbeit. Der Junge verstummte. Doch noch während Audrina sich wieder zu Eli umdrehte, sah sie aus den Augenwinkeln, wie er hinter ihr Grimassen schnitt. Kurz zögerte sie und überlegte, ob sie eingreifen sollte. Doch sie kam zu dem Schluss, dass sie sich zunächst um Eli kümmern wollte.
»Weißgrau ist eine tolle Farbe. Immerhin ist sie die Farbe der Berrgelsheimer Bre-cher und die gewinnen regelmäßig die Weltmeisterschaft im Felsball.«
Eli begann zu lächeln. »D...deswegen i...ist es ja meine Lieblingsfarbe.«
»Super Eli. Danke für deine Vorstellung.« Sie sah zu Nevi, die direkt neben Eli saß. »Jetzt bist noch du an der Reihe, Nevi.«
Das Trollmädchen nickte.
»Ich bin Nevi. Eigentlich heiße ich Nevia, aber Nevi ist kürzer. Am liebsten mag ich Waldpilze mit süßer Harzsoße. Ich bin sechs Jahre alt. Ich wohne bei meinem Onkel, weil mein Vater zum Arbeiten weit weggezogen ist. Aber ich soll hier auf die Schule gehen. Meine Lieblingsfarbe ist grün.«
»Super. Danke Nevi« Audrina sah sich in der Klasse um. Eines der Mädchen hatte sich gemeldet.
»Ja, Lilla?«
»Warum hast du so spitze Ohren, Nevi?«
Audrina konnte Nevi ansehen, dass ihr die Frage unangenehm war. Sie sah hinunter auf den Tisch und flüsterte: »Weil ich zur Hälfte Elfe bin.«
»Iiiih, ein Modertroll!«, blökte Jark durch die Klasse.
Wütend drehte Audrina sich um. »Es reicht, Jark. Du kommst nach dem Unterricht zu mir und bekommst eine Extraaufgabe.
Zunächst herrschte Stille in der Klasse. Betreten sahen die meisten Schüler zu Boden. Doch einige blickten Nevi interessiert an, andere begannen zu tuscheln oder rümpften die Nase. Mischlinge waren nicht gerne gesehen. Egal, um welche Form es ging. Goblin-Troll, Troll-Elf, Elfen-Wolfer, ganz egal. Audrina konnte die ganze Aufregung nicht verstehen. Daher versuchte sie, so natürlich wie möglich zu reagieren, um den Kindern zu zeigen, dass es nichts Schlimmes war, wenn jemand ein Mischling war.
»Okay, danke, dass du uns das erzählt hast.«
An Jark gewandt fügte sie hinzu: »Und Worte wie Modertroll will ich hier nicht nochmal hören!«
Moder war ein ausgezeichneter Dünger. Er stank jedoch bestialisch und sah ekelhaft aus. Er wurde hergestellt, indem man Graukeimer Sumpfwasser und Bruggsberger Schlamm miteinander vermischte. Die Mischung von Elfen mit Trollen, in dessen Adern sich das Blut der beiden Rassen floss, empfanden einige Trolle wohl genauso ekelerregend wie Moder.
»Und warum lebst du nicht bei deinem Vater?«, platzte Jark heraus.
»Weil... weil er...« Ihre Hände begannen ein wenig zu zittern. Audrina beschloss, einzugreifen.
»Du musst die Frage nicht beantworten, wenn du nicht magst.«
Das Mädchen nickte dankbar.
»Ich glaube, Nevi hat uns schon ganz viel von sich erzählt. Es ist oft nicht einfach, wenn man selber merkt, dass man etwas anders ist als die Anderen. Daher finde ich es schon ganz mutig, dass sie uns überhaupt so viel von sich erzählt hat.«
Audrina hoffte, dass sie die Kinder ausreichend beruhigt hatte.
In dem Moment klingelte es zur Pause. Sie atmete auf. Das kam genau zur richtigen Minute.
»Okay, dann machen wir jetzt Pause. Und danach fangen wir an mit dem Lesen.«Audrina schlenderte mit einem heißen Tannenharzkaffee in der Hand die Straße zu ihrer Höhle hinauf. Der Wind blies über die Gipfel in das Tal und zerzauste ihren Haarschopf. Sie schloss für einen Moment die Augen und genoss den pfeifenden Wind. Es gab doch nichts Besseres, um nach einem stressigen Tag ein wenig abschalten zu können. Immer wieder war in der Schule das Gespräch auf Nevi gekommen. Dem Mädchen war es anzusehen, wie unangenehm ihm die ganzen Fragen waren. Doch Kinder waren nun mal neugierig und leider auch sehr ehrlich. Es gab so einige, die die stumpfsinnigen Kommentare über Mischlinge, welche sie vermutlich bei ihren Eltern aufgeschnappt hatten, ohne zu überlegen, nachplapperten.
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Nevia und das Geheimnis der Elfenmagie
FantasyNevia, die von allen nur Nevi genannt wird, ist ein Trollmädchen. Sie gilt als tollpatschig. Ständig fällt etwas um oder geht zu Bruch. Doch dann trifft sie Audrina Gilby, ihre Klassenlehrerin, die mehr dahinter vermutet als reine Schusseligkeit: El...