44. Kapitel ~ Unerwarteter Besuch

344 20 22
                                    

Jessys Sicht

Keiner hat auf der Rückfahrt geredet. Chris und Maike haben keinen Mucks von sich gegeben, um mir zu erzählen, was mit Andreas los ist. Warum wir ihn nicht sehen dürfen. Das heißt, warum die beiden nicht zu ihm dürfen. Ob ich gewollt hätte, ist eine andere Frage. Oder, ob sie mich gelassen hätten. Oder, ob ich gedurft hätte. Keine Ahnung. Habe ich nicht mal andere Probleme als das alles hier? Als das ganze dumme Drama? Basti ist ein Stein vom Herzen gefallen, als ich ihn eben angerufen habe. Er war fix und fertig, und hat sich solche Sorgen gemacht... Leider wurden wir unterbrochen... doch das konnte Chris ja nicht wissen, dass ich ihn in der Zwischenzeit anrufe. Andererseits, warum auch Rücksicht nehmen. Muss man ja nicht, ich mache ja nix Schlimmes durch oder so. Denn ob Maike das getan hätte, da bin ich mir unsicher... Chris bestimmt schon. Wieder habe ich beim Telefonat geweint. Weinen ist so furchtbar in letzter Zeit, ich wünschte, es würde endlich mal aufhören. Weinen ist schwach und erbärmlich, und alle die es sehen oder hören, machen sich einfach nur Sorgen. Ich will weg hier. Nach Hause, zu meinen Eltern und meinen Bruder. Ich will zu Basti. Jetzt. Mit geschlossenen Augen höre ich weiter dem Rauschen des Wagens zu, da steht er aber auch schon wieder.

Kurze Zeit später sitze ich erneut bei Andreas Zuhause und warte auf meine Eltern. Ich habe ihnen gesagt, dass ich jetzt doch hier bin, da es im Krankenhaus doch nicht so lange gedauert hat. Natürlich haben sie es erst nicht verstanden, warum sie zur Psychiatrischen Einrichtung kommen sollen... Sie machen sich solche Sorgen, und das zu Recht... Was hat Andy bloß getan... Und wie soll ich ihnen das erzählen? Soll ich es überhaupt? Ihre Reaktion will ich gar nicht wissen... „Jess? Hey, ich habe eine schöne Idee, was wir noch machen können, bevor deine Eltern kommen", sagt Chris plötzlich sanft neben mir. Ich schaue mit leerem Blick hoch. Er erschrickt leicht. „Also... ich kann dir unsere Werkstatt zeigen, wenn du magst. Sie ist gleich neben Andys Haus..." Werkstatt. Neben Andys Haus. Und erst jetzt wird mir so richtig bewusst, dass ich bei Andreas Ehrlich zu Hause sitze. Wow. Aber es flasht mich einfach null. Auch Chris Vorschlag nicht... Er grinst total euphorisch, weil er wohl meint, dass ich die Idee jetzt großartig finde. Hätte ich auch, zu jedem anderem Zeitpunkt, aber nicht jetzt. Sein Lächeln erstirbt. „Chris... tut mir leid, aber ein andermal gerne. Wenn er wieder gesund ist. Ich kann doch nicht... ohne ihn... Wenn, dann nur ihr beide zusammen." Chris scheint zu versuchen, mich zu verstehen. Ob er es tut, keine Ahnung, aber er sagt: „Ach so... ja, okay." Irgendwie enttäuscht. Klar, hätte ihn jetzt auch abgelenkt. Sorry, Bruder.

Wir machen nicht mehr viel hier. Bisschen reden, Tee trinken, und raus gehen, auf meine Eltern warten. Man hat mich nicht dazu überreden können, ohne Andreas die Werkstatt gezeigt zu bekommen. Nein. Das will ich einfach nicht. Abgesehen davon ist es ein Grund, nochmal hierher zu kommen. Sie meinen doch immer, dass wir jetzt Freunde sind? Also bitte. Ich hoffe, das sind und bleiben wir, auch nach dem ganzen Drama. Auch Andreas und ich. Stockholm Syndrom lässt grüßen. Da hinten kommt auch schon das Auto meiner Eltern. Ich kann mich nicht freuen... und das ist schrecklich. Ich schließe die Augen. Holt mich raus hier, ich kann nicht mehr...

~ 2 Tage später, Donnerstagmorgen ~

Flashblack

~

Ich wache auf, und befinde mich in einer Schlafkoje im Nightliner meiner Brüder. Verschlafen stelle ich fest, dass es Andys Schlafplatz ist. Ich grinse breit, und steige mit Elan aus dem Bett, um zu schauen, wo die beiden stecken. Ich öffne die Zwischentür und da sehe ich sie zusammen da sitzen: Schlafend, und Andy hat seinen Kopf auf Chris Schulter gelegt. Es sieht aus wie damals, im Krankenhaus. So süß, wie sich der Kleine um den Großen kümmert. Ist ja auch wichtig, zurzeit vor allem. Zufrieden gehe ich zurück zu den Kojen, da höre ich die Tür hinter mir zuschlagen. Ich zucke zusammen – war das der Wind? Doch als ich mich umdrehe, trifft mich der Schlag. Ein bekanntes Gesicht taucht auf. Direkt vor mir. Das Monster... Und es schließt die Tür ab, während es mich anschaut. „Nein...", wispere ich leise. Voller Angst. Rasendes Herz, und mir wird kotzübel, als er sich über die Lippen leckt. „Jetzt kann dir keiner mehr helfen, Kleine...", raunt er mir zu, und ich werde wütend: „NENN MICH NICHT KLEINE, ARSCHLOCH!" Er lacht nur laut auf, während er mir immer näher kommt. Mich auf das Bett drängt. Es wird immer enger hier... „CHRIS! ANDREAS! ANDREAS, HILFE!", schreie ich, so laut ich kann, und das Monster lacht bloß, hält aber nicht meinen Mund zu. Ich schaue an mir herunter und sehe aber bereits, dass meine Hose weg ist, Komplett weg, ich sehe sie überhaupt nicht mehr... Nochmals schreie ich nach meinen Brüdern, in der Hoffnung, dass sie mir endlich helfen... Und plötzlich. Ein lautes Knallen. Keine Ahnung, was das war, aber Andreas steht hier. Mitten im Raum. Ich schaue am Monster vorbei, zu ihm. „ANDREAS! Andy, hilf mir...", weine ich, und bin so froh, ihn zu sehen. Aber – er macht nichts. Er steht nur da, und schaut verwirrt zum Monster und mir. „Andreas, bitte...", wimmere ich schon wieder, und spüre schon den ekelhaften Atem meines Gegenübers an meinem Hals. Mehr passiert nicht – noch nicht... Ich sehe immer noch zu meinem Bruder, der sich plötzlich an den Kopf fasst. Adrenalin pocht plötzlich durch meinen Körper wie sonst was, ich schreie: „NEIN! NEIN, BITTE NICHT!" Nicht jetzt! Das darf nicht sein! Ich winde mich unter dem starken Griff des Monsters, doch es ist zwecklos. Und irgendwann hört Andy auf zu wimmern vor Schmerzen, und hebt seinen Blick wieder. Ausdruckslos. „Bitte, Andy, hilf mir...", flehe ich, mit Tränen in den Augen, er schaut mich eindringlich an, und da sehe ich etwas, was mir das Blut in den Adern gefrieren lässt.

Like two brothers - So wie Brüder - Ehrlich Brothers FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt