Was ist wahr? (Ichi) - 2

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Ich steige aus. Es ist ungemein eigenartig. Ich fühle mich, als ob ich kein Teil meiner bisherigen Welt mehr wäre, als ob alles um mich herum ohne mich existiert. Alles und jeder rauscht an mir vorbei. Keiner würdigt mich auch nur eines Blickes, doch das fasziniert mich viel zu sehr als dass es mich kränken würde, da ich sie alle dafür umso mehr beachte von ihrem regen Treiben und ihren sonderbar gleichen Gesichtsausdrücken in solchem Maße erstaunt, dass ich von dort an einige Zeit darin investierte darüber nachzudenken, was wohl dieser anscheinend sehr verbreitete Gedanke war, der sie alle wie ja auch mich dereinst, so agieren lässt, dass sie ihre Nächsten derartig ignorieren. Ich fand eine mir schlüssig erscheinende Antwort in mir selbst: Der stete Versuch überhaupt erst eine Frage zu finden, welche der eigene Geist dann beantworten könne beschäftigt das eigene Selbst so sehr, dass dieses allem anderen eine niedrigere Priorität zuordnet. Zumindest war dies die Erkenntnis darüber, weswegen ich mich so verhielt.

Doch nun bin ich ein Beobachter, ein Dritter, der sich in dieser Welt nicht mehr nur nach schlichter Teilnahme, sondern nach Verständnis sehnt. Erneut fiel mir bei diesem Gedanken Luzifer ein. Er wollte nicht nur ein weiterer Dienender sein mit dem Ziel eines höchsten Engels, sondern viel mehr als dass. Er wollte verstehen. Seine Welt, sein eigenes Selbst und auch jene, die um und scheinbar über ihm waren. Er hatte Gewalt dafür erhalten, doch ich wusste, dass sich ein denkender Geist dadurch nicht am Fortführen seiner Infragestellung hindern liesse. Diese Geschichte veranlasste mich erneut einen Gedanken zu führen den zu Artikulieren ich erst sehr viel später verstand. Der Vollständigkeit wegen: Es war der Gedanke, dass das "Böse" oder "Boshaftigkeit" nicht existieren, da das Verhalten wie auch das Wesen des Menschen determinierbar und logisch nachvollziehbar sind. Zudem sei an dieser Stelle gesagt, dass für das Erlangen eben dieser Erkenntnis vieles Überdenken und sogar das Erstellen einer wissenschaftlichen Arbeit nötig waren, bis ich erst einmal von selbst dies Verstand. Doch bereits die Anfänge dieses Gedanken beschäftigten mich damals noch eine lange Zeit. Und um ehrlich zu sein: Ich genoss all dieses Denken ungemein und die Töne der Glühwürmchen, so anmutig und wunderschön um meinen Geist tanzend, wurden mir zur angenehmsten Symphonie. Ich fühlte mich in meinem Denken und meinem Fragen geborgen.

Worin ich jedoch keinerlei Halt finden konnte war die mir gestellte Aufgabe: Erfolg! Wenngleich ein keiner diese Bürde für den Geist jemals wirklich in Worte fasste, so war es doch stets für jeden noch so jungen oder alten Menschen ein allgemeiner Fakt, dass eben dies das einzig gültige Ziel sei um die eigene Wertigkeit anhand der hierarchischen Stellung zu legitimieren. Es war jedoch niemals generell der Erfolg in irgendeiner Sache von Bedeutung oder Erkenntnis gemeint. Wenngleich diese lediglich als Werkzeug für den eigentlichen Sinn dienen dürften, so war eben dieser nichts simpleres und nutzloseres als ein Anstieg des monetären Besitzes. Als mir trotz meines jungen Alters diese niveaulose "sozial normierte Vorherbestimmung" bewusst wurde, hatte ich zum ersten Mal in meiner Geschichte den Wunsch kein Teil einer eben solchen Gesellschaftsform zu sein. Was sollte das Ziel bei solchem immerwährendem Weiterlaufen sein? Der an Geld Reichste zu sein? Die meisten einem gleich nach Monetarium lechzenden Schergen der eigenen Leere um sich zu scharen? Genügend Materielles zu Besitzen um sich dem Neid aller anderen sicher zu sein, oder sich an einem jeden Tag die Möglichkeit zu bilden, einer jeden vorgegebenen Form der Unterhaltung bis hin zum Erkaufen menschlicher Körper nachzugehen? 

-Nicht ansatzweise etwas was auch nur eine einzige Sekunde der menschlichen Zeit verschwenden sollte in welcher sich das Individuum der wesentlich produktiveren Aufgabe des Denkens widmen kann, was ihm eben jene wahre Kostbarkeit verschaffen kann, welcher ich von nun an auf ewig hinterher folgen würde: Erkenntnis. Auch nur eine einzige Sache vollends zu verstehen ist ein solch wunderbares Gefühl, dass ich mich über alles erdenkliche wunderte als ich zwischen diesem Gedanken bemerkte, dass ich doch vor nicht einmal einer Woche auf nichts anderes hinfröhnte als die nutzlosen "Ideale" welche ich jetzt so verurteile. Mit der Zeit sah ich zudem auch ein, dass ich natürlich nicht das einzige Individuum war, das sich dem konstruktiven hingab. Jedoch sah ich leider ebenso, dass eben diese anderen denkenden eine Minderheit waren. Eine absolute um dies sogar noch bedauerlicher zu machen. Während ich von diesen anderen Geistern erfuhr, erlernte ich auch ihre Erkenntnisse und bemerkte, dass sie mich, was zuvor keine einzige philosophische Lehre jemals tat, bewegten und zum weiteren Denken anregten.

Erneut sah ich, wie sehr ich mich fühlte, als ob ich nach einem viel zu langen Schlaf endlich begonnen habe zu erwachen. Mein Bewusstsein war bis zu dieser Zeit kein wirkliches, da alles an mir vorbeizog und ich keiner Sache wirkliche Wichtigkeit zurechnete. Doch jetzt, da ich zu denken und somit für mich selbst zumindest auch zu leben begonnen habe, war mir als wäre die gesamte Welt ein Faszinosum und Mysterium, welches für mich zu lösen galt. Und es war, so denke ich jetzt, Jahre später als ich dies niederschreibe, zumindest, als wären andere Personen für mich wie Ameisen. Nicht in Bezug auf ihre Grössen oder gar ihre Proportionen zu mir auf irgendeine erdenkliche Weise, sondern weil sie für mich immer nur weiter zu rennen schienen. Herumwuselnd auf der Jagd nach gar nichts. Auf nichts anderes bedacht als das profane tägliche Überleben. Ich sah sie nie betrachten und gedankenversunken die Welt bedenken. Und was noch von viel grösserer Bedeutung war: Ich hörte nie auch nur einen meines Umfelds seine ehrlichen Gedanken und Überlegungen äussern.

Heute klärte sich dies im übrigen auf. Zumindest zum Teil. Denn ich sah, dass das Denken selbst ihnen allen gegeben war und viele von mir ehrliche Bewunderung erhielten für ihre Gedanken, wenngleich solche Momente leider selten waren. Jedoch sah ich leider ebenso, dass ihnen keinerlei Anreiz war, ihre Gedanken fortzusetzen oder damit Erkenntnisse für sich und andere zu gewinnen. Stattdessen waren die Gedanken stets nur ein Mittel das kleine schwache Ziel des gesellschaftlichen Rahmens zu verfolgen. Etwas für mich persönlich sehr bedauerliches, doch wer bin ich zu urteilen? An dieser Stelle sei ebenso gesagt und auch hervorgehoben: Ich war damals nicht dauerhaft in einem Zustand des Denkens. Ganz im Gegenteil war mein Bewusstsein lediglich zu wenigen Zeiten aktiv, so war ich meistens ebenso nichts weiter als ein vor sich hin existierendes Zahnrad in der grossen nichts produzierenden Maschine des Arbeitens. 

Zu Ende dieser Seite möchte ich eine Frage in das Bewusstsein meines Lesers werfen, welche dem nächsten Kapitel nahe sein wird: "Sind sie glücklich?" 

Luzifer ex CirculaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt