Mach dich frei

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Als sie in der Schule ihre Tasche öffnete, fand sie einen Zettel darin vor. Ganz oben aufliegend, als hätte er dort schon immer auf sie gewartet. Sie faltete ihn auseinander und las: Mach dich frei!

Eine unbekannte Handschrift hatte diese drei Worte verfasst, die Buchstaben in künstlerischem Schwunge niedergeschrieben, so nichtssagend, so bedeutungsvoll. Dennoch entschloss sie sich, keinen Gedanken über den Zettel zu verschwenden, den sie für einen Streich der Mitschüler hielt. Doch als die erste Stunde begann und sie sich nach dem Platze schräg hinter ihrem umblickte, fiel ihr die erste Ungewöhnlichkeit des Tages auf, denn der Junge, der dort zu sitzen pflegte, fehlte.

Natürlich war ihr Umdrehen kein Zufall, nein, schon seit langer Zeit hegte sie Gefühle für den Jungen, wie ein immer schwelendes kleines Flämmchen, dass sich ausbreiten wollte zu einem Großbrand, jedoch immer wieder zurückgehalten und eingepfercht wurde, bis es schlussendlich nur noch als traurige Glut, vor dem Verlöschen sich fauchend verteidigend, eingeschlossen und in ihrem Herzen verborgen siechte. Nach dem Jungen zu fragen wagte sie nicht, so saß sie stumm und in Gedanken versunken, ohne Lehrer, Schüler oder Klingeln zu hören auf ihrem Platz, den Zettel darüber schon langsam vergessend.

Nach der Schule ging sie wie im Traume ihr Fahrrad abzuschließen und wollte, wie sie es jeden Tag tat, zum Haus ihrer Großmutter fahren, um der alten, blinden Dame Einkäufe zu bringen, die zu tragen die Frau schon lange nicht mehr in der Lage wäre. Doch so wie sie mit raschelnden Tüten die Türe der Wohnung aufgeschlossen hatte, erstarrte sie in größtem Schrecken, denn von einem dunklen Vorgefühl erfasst stürmte sie in die Wohnung und fand sie, die Tüten vor Panik fallen lassend, leer vor, was sicher seit über 10 Jahren kein einziges mal der Fall gewesen war.

Sobald sie sich einigermaßen gefasst hatte, sah sie sich in der Wohnung um und befand, dass sie unbewohnt und unbekannt, kalt und fremd wirkte; als habe seit Jahren keine Menschenseele sie betreten. Auf dem kleinen Tischchen in der Ecke der Küche, an dem die alte Dame zu Speisen gepflegt hatte, erblickte das Mädchen einen weiteren Zettel. Mit zitternder Hand und bebendem Körper bewegte  sie sich auf das Tischchen zu, konnte vor lauter Zittern kaum den Zettel ergreifen und als sie ihn endlich hielt, ihn kaum lesen. Dort stand: Mach dich frei!

Die gleiche Schrift, die gleichen Worte, ohne sich um die herumliegenden Einkäufe zu kümmern, oder ihr umherliegen auch nur zu erfassen, stürmte das Mädchen aus der Wohnung, erhoffte sich Erleichterung in der frischen Luft des Sommernachmittages.

So schnell sie konnte, mit ihrem Zitternden Körper, fuhr sie zu sich heim, ihren Eltern erzählte sie nichts, auch wenn die sich über ihre Blässe sorgten und sie für ungesund befanden.

In ihrem Zimmer jedoch, sie wollte grade mit den Hausaufgaben beginnen, bemerkte sie, den unbewohnten Käfig ihres Hamsters. Die Türen waren geschlossen und als sie sogleich die Eltern zu sich rief, wussten die auch nicht, wo das Tierchen hatte ausbrechen können. Beim genaueren Untersuchen des Käfigs jedoch fanden sie an der Rückseite angeklebt einen Zettel. Dort stand: Mach dich frei!

Und trotz der frühen Stunde begab sich das Mädchen, von plötzlicher Müdigkeit und Schwäche ergriffen, ins Bett um sich auszuschlafen, am nächsten Morgen, so glaubte sie, würde sich alles wider gerichtet haben.

Doch als sie erwachte und den Vater und die Mutter begrüßen wollte, fand sie die Wohnung ebenfalls leer. Ob die Eltern ausgegangen waren? Diese Hoffnung hegte sie zu beginn, bis sie auf dem Kopfkissen im Elternschlafzimmer, das sie für gewöhnlich nicht betreten durfte, einen Zettel fand: Mach dich frei!

Da wusste sie, dass die Eltern verloren waren.

In der Schule fehlte der Junge noch immer, auch der Platz neben ihr war nun leer, dort, wo ihre beste Freundin normalerweise saß. Am Tisch klebte, gut verborgen, dass er nicht von jedermann gefunden wurde, ein Zettel: Mach dich frei!

Da wurde dem Mädchen Bange, sie verließ im Laufschritt das Schulgebäude, rannte, rannte, rannte zum nächstgelegenen Park und setzte sich dort an den kleinen Teich, weinend, schluchzend, ohne jede Selbstbeherrschung.

So vergingen einige Wochen, das Mädchen war mehr und mehr auf sich gestellt, nach und nach verschwanden alle bekannten Gesichter, alle Freunde, alle Bekannten, alles Leben das ihr lieb war verließ sie und sie blieb zurück, in der absoluten Isolation, ohne das auch nur ein einziger Mensch auf dieser gesamten Welt ihr stilles Leiden bemerkte.

Und nach und nach begann sie zu verstehen: Um frei zu sein, musste sie sich von aller Liebe freimachen.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Mar 02, 2014 ⏰

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