LESEPROBE (2)

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Abschiedsworte

Lynda führte sie geradewegs in den Westflügel des Schlosses, in dem die Küchen und die Schlafsäle der niederen Angestellten lagen. Normalerweise durfte Analina sich hier gar nicht aufhalten, was sie allerdings bisher nicht davon abgehalten hatte, es trotzdem zu tun. Ihre Schritte hallten laut von den gekachelten Wänden wider und im selben nervösen Takt spürte Analina ihr Herz hämmern.

Vor einer hohen, schweren Tür machte ihre Mutter Halt. Unsicher trat Analina vor und hob die Hände, doch bevor sie ihr Glück versuchen konnte, bewegte Lynda leicht die Finger und von einigen eisblauen Magiefunken begleitet schwang die Tür auf.

Sie waren in einer Art Aufenthaltshalle der Diener gelandet, in der Analina nie zuvor gewesen war. Abends wimmelte es hier vermutlich von Leben, aber jetzt, am Vormittag, war die Halle fast leer. Die einzigen drei Anwesenden standen schweigend mitten im Raum und hatten sie ganz offensichtlich erwartet. Naturgemäß war es der Schneeriese, der Analinas Aufmerksamkeit zuerst auf sich zog. Wie alle Angehörigen seiner Art verfügte er über die Eigenschaft, seine Körpergröße an die Umgebungstemperatur anzupassen und so maß er in unmittelbarer Nähe eines offenen Kamins nur knapp zwei Meter. Unauffällig war seine Erscheinung trotzdem nicht, denn im flackernden Feuerschein funkelte seine reinweiße Haut als wäre sie mit Raureif überzogen. Es war das erste Mal, dass Analina einem Riesen direkt gegenüberstand und während seine Gestalt insgesamt etwas Einschüchterndes hatte, war sie vom freundlichen Ausdruck seiner blassroten Augen überrascht.

Unter ihrem Blick neigte er kurz den Kopf und die Bewegung wurde von einem zweiten Mann wiederholt, der keinen größeren Kontrast zu dem Schneeriesen hätte bilden können. Er zeigte die gedrungene Statur, den kräftigen Bartwuchs und die dunkle Haut der Gnomen und inmitten seiner harten Gesichtszüge loderten orangefarbene Augen wie zwei glühende Kohlen. Analina schaffte es, seinen Blick für die Dauer eines Herzschlags zu erwidern. Dann wandte sie sich ab und begegnete prompt einem dritten Augenpaar, bernsteinfarben und katzenartig. Die einzige Frau in der kleinen Gruppe war jünger als ihre Begleiter, schien jedoch die Ranghöchste der drei zu sein. Ihr dunkelgrüner Zopf und die olivfarbene Haut legten nahe, dass es sich bei ihr um eine Waldelfe handelte, die normalerweise in ihren Stämmen im Ardenwald unter sich blieben. Im Gegensatz zu den beiden anderen senkte sie ihren Blick nicht, als Analina ihm begegnete, sondern sah ihr ungehemmt ins Gesicht.

Lynda trat einen Schritt nach vorne und die Waldelfe neigte den Kopf.

„Das sind die Begleiter, die ich für dich ausgewählt habe", sprach ihre Mutter das Offensichtliche aus und blieb dann neben Analina stehen. Ihre kühle Haut streifte Anas und unwillkürlich fragte sie sich, wann Lynda sie vor diesem Tag das letzte Mal berührt hatte. Sie kam schnell zu dem Schluss, dass sie sich nicht erinnern konnte.

„Das sind mein Leibwächter Hannibal" – der Schneeriese deutete eine Verbeugung an – „Qalim, unser bester Langstreckenbote" – der Gnom nickte knapp – „und meine Schattenspäherin Narena" – die Waldelfe verzog keine Miene.

Analina zwang sich zu lächeln. „Ich bin sicher, sie sind hervorragend geeignet. Vielen Dank, dass ihr mich begleiten wollt."

Lynda trat auf die Gruppe der Begleiter zu und wandte sich wieder an Ana. „Ihr werdet morgen bei Sonnenaufgang aufbrechen. Für Kleidung und Proviant ist gesorgt, wenn du noch persönliche Dinge einpacken möchtest, solltest du das heute noch tun. Die vollständige Route kann Qalim dir unterwegs erklären, zunächst verläuft sie auf jeden Fall durch die Ebenen von Arden und durch die Glasberge bis nach Gringol, wo ihr rasten werdet. In ein bis zwei Monaten solltet ihr euch von dort aus melden. Danach geht es dann über Muschelsand, Lartencia und Turmland weiter zur Akademie des Meeres an der Küste von Palestra."

LUNA - Im Zeichen des Mondes (LESEPROBE)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt