Er wandte sich zu ihr um. Sie konnte sehen wie ihm das Blut aus den Adern wich. Sein Gesicht wurde aschfahl und er starrte sie aus vor Entsetzen geweiteten Augen an. Er öffnete seinen Mund, aber kein Laut drang an ihre Ohren. Mechanisch begann er sich auf sie zu zubewegen. Ein unsicherer Schritt nach dem anderen, stolpernd über die Leichenteile, die um sie herum einen Kreis bildeten und rutschend auf dem von Blut und Regen durchweichten Boden. Eine blutige Barriere aus Fleisch und Knochen, die ihn mehrmals zu Boden gingen ließ, ehe er schließlich vor ihr auf die Knie ging. Seine Hose begann sich sofort mit Blut zu tränken, aber er bemerkte es nicht. Seine ganze Aufmerksamkeit galt ihr.
Ihre nackten Füße badeten im Blut und die beiden rostigen Schwerter, die sie in ihren Händen trug waren blutbesudelt. Sonst konnte man an ihr keine Spur des Massakers erkennen, dass sie gerade verursacht hatte. Ihr langes rotes Haar, das sich aus ihrem Zopf gelöst hatte und das ihr nun offen über die Schultern fiel, und ihr einfaches rotes Kleid, ließen nicht ahnen, dass sie blutdurchtränkt waren, und der Regen hatte alles Blut sofort wieder von ihrer makellosen, weißen Haut gewaschen. Die Blässe ihrer Haut stand in seltsam Kontrast zu der Welt aus Rot, die sie umgab.
Sie konnte nicht sehen wie sich sein Mund erneut öffnete um Worte zu formen, die sie nicht hörte, denn ihre Augen waren immer noch auf den Punkt gerichtet, an dem er zuvor auf der Straße erschienen war. Er wusste genau, dass sie ihn nicht hörte, die Welt um sie herum nicht war nahm, gefangen in einem Kampf den sie schon längst gewonnen hatte, aber dennoch rief er ihren Namen, immer und immer wieder. Das Entsetzen das zuvor in seinen Augen gelegen hatte, wurde jetzt überlagert von Sorge und Schmerz, die sich in seiner Stimme widerspiegelten. Sein Rufen war herzzerreißend, aber nur die Toten waren da um ihn zu hören.
Er wusste, sie hatte das nur für ihn getan. Nur für ihn hatte sie den Willen und die Kraft aufgebracht, diese Menschen zu töten. Die Menschen, die sie aufgezogen hatten und seit zehn Jahren für sie gesorgt und ihr Leben bestimmt hatten. Er konnte sich nicht vorstellen, was das für sie bedeutet haben mochte, was in ihr vorgegangen war, als sie ihren Entschluss gefasst hatte. Früher hätte er vielleicht eine Ahnung gehabt, früher war sie ihm so vertraut gewesen, dass er sie manchmal besser verstanden hatte als sich sich selber, aber jetzt...
Er konnte doch gar nicht mehr behaupten, dass er sie kannte. Er wusste nicht, was sie in diesen zehn Jahren durchgemacht hatte oder wie sehr sie das verändert hatte. Eigentlich kannte er die junge Frau doch gar nicht, die nun vor ihm stand, nur das Mädchen, das sie einmal gewesen war. Das Mädchen mit dem er alles geteilt hatte. Seine Träume und Ängste, seine Gedanken und Gefühle, was ihn antrieb und was ihn innehalten ließ. Und auch sie hatte alles mit ihm geteilt. Jeder im Dorf hatte gleich erkannt, dass sie die besten Freunde waren. Sie waren unzertrennlich gewesen. Zumindestens bis zu jenem Tag. Jener schicksalhafte Tag, an dem ihnen alles genommen worden war. Aber trotzdem war er sich ohne jeden Zweifel sicher, dass sie es für ihn getan hatte, und dass es schrecklich gewesen war. Er erkannte es daran, wie tief sie eingedrungen war in diesen seltsamen Zustand, der überhaupt erst der Grund für das ganze Leid war.Er hob seine klammen Hände und begann sanft und vorsichtig ihr die Schwerter zu entwinden. Jeden verkrampften Finger löste er einzeln vom Heft. Nacheinander fielen die Schwerter klirrend zu Boden und sobald das zweite Schwert ihre Hand verlassen hatte, begann ihre Starre sich zu lösen. Die Zeit, die für sie still gestanden zu haben schien, begann erneut zu fließen und die Welt um sie erwachte wieder zum Leben. Ein Stöhnen entrang ihren Lippen. Ihr Blut rauschte quälend laut durch ihre Ohren und alles begann sich zu drehen. Sie sackte zitternd in sich zusammen, unfähig einen Muskel ihres Körpers zu kontrollieren und ihr Geist glitt in eine tiefe Schwärze. Das letzte was sie spürte waren seine Arme, die sie auffingen.