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Lautlos geht sie näher. Sie ist im Schatten, sodass er sie nicht sieht. Was im übrigen auch gar nicht möglich gewesen wäre, da er in einer solchen Position gefesselt ist, in der man sich nicht bewegen kann. Wie sie ihn so hilflos sieht, regt sich ein leiser Hauch der Vertrautheit, die Beide mal verband. Doch sie muss den Auftrag erfüllen, muss ihn brechen.
Die schwarzen Haare fallen ihr ins Gesicht, als sie sich in dem dunklen Raum umsieht. Er wird ungefähr 3x3m groß sein, gut geschützt, sodass kein Laut nach draußen dringt. Sie zieht ihr Messer, geht weitere Schritte auf ihn zu und hält es ihm an die Kehle. Er zuckt kurz zusammen, bewegt sich ansonsten aber nicht, sodass sie einen Blick auf die Fesselkunst ihres Chefs erhaschen kann. Die Hände des Mannes sind hinter dem Rücken gefesselt, der Oberkörper fest an die Stuhllehne gebunden. Ivan Sokolow ist sein Name, und er steht im Verdacht, ein Spion oder Verräter zu sein. Die Schwarzhaarige weiß nichtmal, ob es sein richtiger Name ist oder nur ein Deckname. Und genau das soll sie herausfinden, nachdem es bereits einige vor ihr versuchten.
Sie tritt gegen den Stuhl, dieser verändert kurz seinen Platz, fällt jedoch nicht um. Dafür weiß der Mann jetzt, dass jemand hinter ihm ist, den er nicht sehen kann.

"Was willst du? Bist du zurück gekommen, um mir auch noch die restlichen Rippen zu brechen?"
Seine Stimme klingt rau, er muss husten. Vermutlich gab es für ihn schon einige Zeit kein Wasser, geschweige denn Brot. Mehr bekamen die Gefangenen eh nicht.
Sie antwortet ihm nicht, will ihn noch eine Weile in dem Glauben lassen, sie wäre der gleiche Mann, der ihn bereits am Vortag befragt hatte.
Die Frau nimmt das Messer von seiner Kehle, steckt es zurück in seinem Gürtel und verbindet ihm die Augen. Zufrieden beobachtet sie, wie er nervöser wird und versucht, das schwarze Tuch vor seinen Augen loszuwerden.

"Versuch's gar nicht erst."
Er scheint die Stimme nicht zu erkennen. So schnell vergisst man seine Kollegen.

"Oh, eine Frau? Was, hoffen die, dass sie mich mit einer Nutte zum Reden bringen?" der Mann lacht höhnisch auf, das Lachen bleibt ihm jedoch im Hals stecken als die Frau ihm gegen den Oberkörper tritt. Der Stuhl wackelt, Ivan keucht auf.
"Tut dir das weh? Ich sehe, Max hat gute Arbeit geleistet. Vielleicht überlegst du dir vorher, was du sagst."
Der Mann mit den braunen Haaren guckt böse in ihre Richtung, schweigt aber. Sie lacht und nimmt ein weiteres Tuch, dass sie ihm ziemlich fest um den Hals bindet.
"Manche Leute werden ja durch Schmerzen erregt. Gehörst du dazu? Das wäre lustig und würde meine Arbeit ziemlich erleichtern." Nach diesen Worten schlägt sie ihm kräftig mit der flachen Hand ins Gesicht, der Kopf des Braunhaarigen wird zur Seite geschleudert, er lässt sich keine Schmerzen anmerken. Sie muss lächeln - so war er auch früher, gesegnet mit einem Pokerface der Meisterklasse.

Die Frau geht zurück zur Tür, lässt sich einen Becher mit Wasser geben und stellt ihn vor den Gefangenen, allerdings weit genug weg, dass er außerhalb seiner Reichweite ist. Dann bindet sie ihm die Augenbinde ab, beugt sich zu seinem Ohr und flüstert: "Trink nicht zu viel auf einmal, sonst gibt's Bauchschmerzen!"

Mit diesen Worten lacht sie auf, verlässt den Gefängnisraum, lässt jedoch die Klappe zum Beobachten offen.

Ivan sieht sich verwundert um. Als er das Wasser bemerkt scheint sich sein ohnehin schon schrecklicher Durst nur noch zu verstärken.
Er schaut sich um, versucht verzweifelt, die Fesseln zu lösen. Dann besinnt er sich auf einen neuen Weg, ruckelt mit dem Stuhl ein Stück auf den Becher zu.
Es funktioniert, also macht er weiter.

Es sind nur noch wenige Zentimeter, als die schwarzhaarige Frau plötzlich wieder neben ihm steht. Diesmal trägt sie schwarze Jacke, deren Kapuze ihr Gesicht verdeckt, außerdem hat sie ein schwarzes Basecap tief in die Stirn gezogen. Sie nimmt den Becher, betrachtet ihn nachdenklich und hält ihn dann dem Mann an die trockenen Lippen. Er trinkt durstig, mehr als einen Schluck lässt sie ihn jedoch nicht machen, dann stellt sie den Becher auf eine Ablage direkt neben der Tür. Sie beginnt, ihm die Fesseln zu öffnen, zuerst an den Füßen. Er betrachtet erstaunt, was sie da macht. Als sie auch noch die Handfesseln löst, scheinen ihm die Augen rauszufallen.

Die Wärterin Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt