Das Schweigen der Jüngsten

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Es gab da mal jemanden. Jemanden, der einen klaren Kopf und ein starkes Herz hatte.

Ironie des Schicksals. So stark schien das Herz nicht gewesen zu sein, er starb.

‚Der Tod macht keine Termine.', stand in seinem kleinen Notizbuch voller Weisheiten.

Es war dünn, in einem schlichten schwarz-weiß Stil, mit Blättern und ein paar Blumen und einem tiefschwarzen Buchrücken. Die sandfarbenen Seiten mit den abgerundeten Ecken fühlten sich rau unter meinen schmalen Fingerkuppen an, feine Bleistiftlinien zierten mehrere Seiten, bis nur noch leere Blätter verblieben. Denn er starb.

Trotz des ganzen Vermögens, der teuren Einrichtung und dem sportlichen Auto, schien mir dieses kleine Buch, das kostbarste Erbe zu sein, das ich mir erträumen konnte. Es waren seine Gedanken, sein Wissen und seine Lehre, die er für uns, seine ‚Kinder aus einer würdigen Zukunft' niedergeschrieben hatte. Damit war etwas von ihm erhalten, wenn er sterben sollte. Und er starb.

Und es war mir bewusst, dass er starb. Schon bevor sein Herz aufhörte zu schlagen, schon bevor der Anruf kam, dass sie uns auf das Ableben unseres Vaters vorbereiten sollte. Schon bevor er im Koma lag. Ein dumpfes Gefühl des Schmerzes begleitete mich mehrere Wochen, ein enger Ring lag um meinen Brustkorb und meine Zunge blieb stumm. Redete nicht, vertraute sich niemanden an. Denn ich wusste, sie waren nicht stark genug. Und so ertrug ich es stumm, das Weinen aus dem Zimmer meiner Schwester, wenn sie in ihrem Zimmer lag und hoffte, er würde es schaffen. Das blasse Gesicht meiner Mutter. Die hoffnungsvollen Nachrichten meiner Halbschwester.

Ich weinte nicht. Ich redete nicht. Ich schlief nicht.

Diese bittere Vorahnung wandelte sich in ein rauchiges Monster in meiner Kehle, das seine aschfahlen Hände über alle Bereiche meines Lebens streckte und die Luft verpestet.

Ich verbrachte stumme Stunden in meinem Bett, keine Gedanken wirbelten in meinem Kopf, nahezu leblos fühlte ich mich. Totale Isolation.

Vielleicht hätte ich weinen sollen. Vielleicht hätte ich weinen, schreien und beten sollen. Aber ich blieb stumm und akzeptierte. Akzeptierte, dass einer dieser, so schrecklich wichtigen Teile meines Lebens, Atemzug um Atemzug von dieser Erde verschwand. Weil er starb. Stück für Stück. Und Stück für Stück starb etwas in mir, das mir keiner jemals zurückgeben könnte. Denn wie könnte mir jemand das geben, das er mir schon immer gab, wenn er nicht mehr sein würde.

Und als ich vor seinem Bett stand, die Schläuche in seinem Körper sah und seine Augen geschlossen waren, sah er aus, als würde er schlafen. Und in seinen Träumen lag er auf einer grünen Wiese, inmitten einer Lichtung in einem dichten Wald, auf einem kleinen Tisch stand sein kühles Getränk und eine Schüssel selbstgemachter Apfelquark. Er selbst lag auf einer blauen Liege, ein dickes Buch in der Hand und die Lesebrille auf seiner Nase. Er genoss die frische Luft und die Stille, nur durchdrungen von dem Gesang der Natur. In vollster Entspannung und Zufriedenheit.

Ich sah ihn ein letztes Mal und ging.

Und jetzt, jetzt wünschte ich mir so unendlich, ich wäre geblieben. Wäre geblieben, wäre wiedergekommen, wäre zurückgekehrt. Aber es war das letzte Mal.

Das letzte mal, dass ich ihn sah, das letzte Mal, dass ich seine warme Haut berührte und seinem Herzschlag lauschte. Denn er starb. Und ich würde ihn nie wieder berühren können. Und es tat so unendlich weh.

Als der Anruf kam, setzte meine Mutter sich ins Auto und fuhr zu ihm.

Und ich bereue es aus tiefstem Herzen, nicht mit ihr gefahren zu sein.

Ich wollte ihn doch nur noch ein allerletztes Mal sehen, bevor es mir auf ewig verwehrt werden würde. In diesem Moment war es egal, das sein Brustkorb noch offen stand, er voller Blut war und bereits gestorben, bevor meine Mutter das Krankenhaus erreichte.

Und es tat weh, als sie zurückkam. Einen Tonengel in der Hand, meine Hand nahm und in das Zimmer meiner Schwester ging, wo sie und meiner Halbschwester standen. Meine Schwester sah den Engel, die geröteten Augen meiner Mutter und fing an zu weinen. Sie weinte und sie schrie, verkündete ihren Schmerz und schluchzte verzweifelt.

Meine Halbschwester weinte an meiner Schulter, meine Mutter weinte.

Und ich blieb stumm. Ich weinte nicht. Ich schrie nicht. Ich fühlte nur.

Ich fühlte, wie sich meine Lunge zusammenzog, mein Hals sich verengte und ein Schluchzen sich den Weg ins Freie bahnen wollte. Ich unterdrückte es mit purer Willenskraft, verschloss meinen Hals und ging. Ich ging wieder und ich werde es mein leben lang tun, bis ich ein letztes Mal gehen werde.

Und es tut weh. Es tut weh und es wird immer wehtun. Es spielt keine Rolle, wie und wann ich es akzeptierte, denn dieser Schmerz wird für immer ein Teil von mir sein.

Das Schweigen der JüngstenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt