Nightmare

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"Schneller, schneller!", spornte ich mich in Gedanken immer wieder selber an, während ich durch die in nächtliche Farben getauchten Straßen lief, "Er holt dich doch gleich ein du dumme lahme Schnecke!". Ich hatte keine Lust mehr, nichts ergab noch wirklichen Sinn für mich. Ich hatte nur noch ein Thema im Kopf: "Schneller, du musst schneller sein als er!" Und so zwang ich meinen müden Körper durch die Straßen und Gässchen. Wären die Straßenlaternen nicht ab und zu an, würde ich wohl oder übel an Ort und Stelle stehen bleiben müssen. Sobald ich nichts mehr sah, war ich so gut wie verloren, denn bei so dunklen Lichtverhältnissen würde ich nie zur Brücke finden. Ziemlich Klischeehaft, nicht? Von einer Brücke springen? Als ich Schritte hinter mir vernahm, beeilte ich mich noch mehr. Auf keinen Fall durfte er mich finden, er würde ich festhalten und mit seinem kalten Griff wieder hinter sich her, zu sich nach Hause, in den Keller ziehen. Um mich wie einen "Schatz zu bewachen", damit ich mir ja nichts antat und auch, damit mich niemand verletzte. Dass er es dadurch verschlimmerte wusste er nicht, konnte er nicht ahnen. Vorsichtig und lautlos setzte ich einen Fuß auf die Brücke. Ich lief langsam das Brückengeländer ab, besah jeden Zentimeter der unter meinen Fingerspitzen vorbeiglitt. Dann blieb ich stehen, ich hatte die perfekte Stelle gefunden. Ein kleiner Sims half mir auf das Brückengeländer, unbeleuchtet war die Stelle noch dazu. Ich warf einen Blick über meine Schulter, keine Sau war zusehen. Nichts neues, um 3:56 sollten normale Leute in ihren Betten, und nicht hier sein. Stille. Ich hörte nur das Plätschern der Isar, deren Wasser 20 m unter meinen Schuhsohlen seinen Weg Richtung Nord-Osten nahm. Verträumt und nachdenklich wanderte mein Blick in den wolkenlosen Stadthimmel, in welchem, zu meiner Überraschung, wirklich ein paar vereinzelte Sterne glitzerten. "Sterne sind nie wirklich da. Da Sterne unterschiedlich weit von uns weg liegen, braucht ihr Licht auch unterschiedlich lang bis zu uns. Wir sehen immer nur ein momentanes Abbild, nie alle Sterne gleichzeitig. So kann ein Stern Abermillionen Lichtjahre von uns entfernt sterben, wir würden es erst in Abermillionen Jahren merken." zitierte ich einen Freund. Vorsichtig zog ich mein rechtes Bein nach, ebenfalls über das Geländer. Heute war ein schöner Tag. Als ich ein leises Rufen hinter mir vernahm, erkannte ich die Stimmer sofort. Sebastian. Aber heute würden seine Bemühungen umsonst sein. Heute würde er zu spät kommen. Und ohne mich nochmal umzuschauen, ließ ich mich kopfüber fallen, bevor die Fluten mich empfingen. Sofort wachte ich auf. Schock. Ich hatte echt gedacht es hätte aufgehört. Aber die 'Geschichte' war ja noch nicht zu Ende. Bis gerade eben. Endlich. Wehe es würde noch einmal von vorne anfangen, die Energie hätte ich nicht mehr. Dann wäre es vorbei. Ich griff nach meiner halbvollen Wasserflasche, welche zwischen Wand und Matratze gerollt war. Schwer atmend versuchte ich sie aufzuschrauben, natürlich erst in die falsche Richtung. Wieder so eine typische Aktion meinerseits, ich konnte es mir auch nicht merken, oder? Ich schob es auf die Müdigkeit und lehnte mich mit dem Oberkörper gegen die hellgrün gestrichene Wand. Fasst schon vorsichtig schob ich meine Füße unter der dünnen Decke hervor und lies sie über meinen Bettrand ragen. Ich wollte gerade aufstehen und ins Bad gehen, stockte jedoch. Ich musste leise sein. Wirklich leise. Das sollte ich zumindest, war doch gerade keiner aus Zimmer 134 gut auf mich zu sprechen. Aber manchmal ist das hier so normal, ist halt nicht so der Ort für normale Leute mit normalen Freundschaften. Hier hatte jeder seine Laster und Probleme. Psychiatrie halt. Und ich nahm mich da nicht komplett aus. Hier war es nicht viel anders als da, wo ich früher gewohnt hatte. Kaum Anspruch auf Eigentum und raus durfte man auch nur selten. Also war der Einzug keine große Umstellung. Zumindest dachte ich, das keiner durch mich wach geworden war, bis sich auf der Matratze über mir jemand regte. 

Meine Ohren vernahmen, wie eine Decke zurückgeschlagen wurde und ich öffnete meine müden Augen. Ein paar Füße hing von der oberen Bettkante herunter. Ich hatte Sebi geweckt! Leise setzte er Fuß für Fuß, Sprosse für Sprosse nach unten und mit ein paar Bewegungen seinerseits hockte er schon neben mir an der Wand und drückte sich mit unter meine Decke. Er nahm mir erst die Flasche aus der Hand, um ein paar Schlücke zu trinken, bevor er ein "Bleib stark." einwarf. Ich sah ihn an, er kannte mich wirklich gut. Er wusste mal wieder, was ich tun wollte. "Was war es denn heute?", hackte er vorsichtig nach. Ich zog die Decke hoch und fixierte meinen Rechten Fuß. "Wieder unser Traum...", hauchte ich in Richtung Bettdecke. "Was hab ich heute getan?", fragte er. "Du hast mich verfolgt. Aber bist zu spät gekommen, du hast mich nicht gefunden. Ich hab mich umgebracht. Ich hab es geschafft." Aus dem Augenwinkel sah ich Rewi, welcher verständnisvoll nickte. "Das wird schon, aber lass dich jetzt nicht dazu verleiten wieder scheiße zu bauen und ins Bad zu rennen. Notfalls kette ich dich auch fest, aber bitte, mach es an jedem Tag, nur nicht heute.". Am nächsten war Kontrolltermin, das heißt morgen würde eine Ärztin meinen Körper nach Wunden, Narben, Stichen und Co. absuchen. Yay. Dieser Termin war zweimal im Monat, also eindeutig zu oft. "Vivi, ich muss es doch auch aushalten, aber glaub mir: Morgen kannst du wieder so viel machen, wie du nur willst. Aber bitte, nicht jetzt." "Ich will aber jetzt. Genau jetzt. Es geht nicht, Rewi...", wisperte ich leicht verzweifelt. Da nahm Rewi meine Hand, besser gesagt fast schon mein Handgelenk und drückte meine Mittelhandknochen so fest er konnte zusammen. Er tat gut und weh, hinterließ aber keine Narben oder andere Spuren. Der Junge lockerte seinen Griff wieder und umarmte mich, ich glaubte zu wissen was in ihm vorging. Er war mir sehr ähnlich. Und aus SVV wurde manchmal, das wir uns gegenseitig wehtaten. Rewis Griff war viel stärker, bei mir täte das niemals so weh. Trotzdem schnappte ich mir seinen Arm und krallte meine Fingernägel in deinen Unterarm. Nachdem ich wieder losgelassen hatte, sagte er "Komm, ich geh wieder schlafen. Versuch es auch, bitte." Er wollte sich schon erheben, als ich ihn am Arm zurückhielt und einen "Ach komm hab Mitleid und bleib hier"-Blick aufsetzete. Ich wollte nicht wieder einen Alptraum haben und wenn ich alleine schlief war die Chance viel höher. "Man ey, Kleinvivi, du machst es mir echt nicht leicht.", murmelte er um dich dann wieder neben mich zu kuscheln. "Danke.", grummelte ich und legte meinen Kopf ebenfalls wieder auf mein Kissen. Ich drehte mich von Rewi weg, schaute an die Frühlings-grüne Wand und versuchte, wieder einzuschlafen. Nach ein paar Minuten entnahm ich dem gleichmäßigem Atem hinter mir, das Rewi bereits eingeschlafen war. Möglichst leise und platzsparend drehte ich mich wieder zu ihm um und beobachtete ihn. "Kleinrewi!" hauchte ich mit beleidigtem Unterton gegen sein Gesicht. Da schlug Rewi die Augen auf und grinste mich schelmisch an, er hatte doch noch nicht gepennt. Blitzschnell zog er mir das graue Kissen unter meinem Kopf weg, nur um sich dann, mit meinem Kissen von mir wegzudrehen und auf beleidigt zu tun. Er stützte sich mit dem linken Ellenbogen ab und schmiss mein Kissen zu Manu ins Bett. Satan sei dank wachte er nicht auf. Manu halt. Er hatte einen sehr tiefen Schlaf. Weil ich zu faul war, aufzustehen schlief ich einfach ohne Kissen.

Insane | Psychatrie-FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt