Levi verharrte regungslos im Dickicht, ihren Bogen weit gespannt. Ihre volle Konzentration war auf den Hirsch gerichtet, der einige Meter entfernt von ihr graste. Zwar war es noch ein junges Tier- sein Geweih ließ erst wenige Verästelungen erkennen- doch sein Körper war bereits bullig und muskulös gebaut. Er würde eine gute Mahlzeit abgeben, ganz wie die Blender es erwarteten.
Hoch konzentriert spannte sie den Bogen noch ein bisschen mehr, um sicher zu gehen, dass der Pfeil sein Ziel tief genug treffen würde. Einzelne Strähnen hatten sich während dem anstrengenden Tag aus ihrem langen, honigblonden Zopf gelöst und klebten ihr in Gesicht und Nacken. Schweißperlen liefen ihr über die Augen und nahmen ihr die Sicht. Nur zu gerne hätte sie sich mit dem Arm über das Gesicht gewischt, doch sie konnte sich keine unnötigen Bewegungen leisten, die womöglich noch das Wild verschreckt hätten.
Sie sog die warme Abendluft ein, ignorierte den stechenden Schmerz in ihrem Arm und ließ den Pfeil mit zischender Geschwindigkeit losschnellen. Die messerscharfe Spitze durchschnitt zielsicher die Luft und traf tödlich mitten in das Herz des Hirschbullen. Mit einem dumpfen Stöhnen sackte das Tier augenblicklich in sich zusammen und blieb regungslos auf dem Waldboden liegen.
Wolf, der die ganze Zeit über gespannt wie eine Feder neben Levi gelegen hatte, sprintete in fünf Sätzen zur Beute hinüber und signalisierte ihr fiepend, dass das Tier tot war.
Wolf war nun schon seit drei Wintern Levis ständiger Begleiter und sie konnte sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Eines dunklen Wintertages hatte sie dieses- damals noch sehr kleine- tiefschwarze Fellbündel winselnd im Tiefschnee gefunden. Sein Rudel war weit und breit nicht zu sehen. Er war so ausgehungert, dass er eher einer Wasserratte als einem Wolfsjungen ähnelte. Obwohl sie zu dem Zeitpunkt noch nicht genau wusste, was sie überhaupt mit ihm anfangen sollte und sie ihre ohnehin schon knappen Wintervorräte mit ihm teilen musste, hatte sie ihn kurzerhand in die Satteltasche gepackt. Eine Entscheidung, die sie nie bereut hatte. Seitdem folgte er ihr wie ein Schatten überall hin, sogar bei der Jagd erwies er sich mehr als nützlich. Er stöberte das Wild auf, um es in Levis Richtung zu hetzen, riss selbst kleinere und größere Beutetiere, wenn sich ihm die Gelegenheit bot, und hielt andere Raubtiere wie Berglöwen und Bären von ihr fern.
Levi folgte ihm triumphierend zu dem erlegten Hirsch. Auch wenn die gesamte Beute an die Blender abfiel, hatte sie das heutige Pensum mehr als erfüllt, was ihr den lästigen Patron und seinen nichtsnutzigen Sohn Abel vom Hals halten würde. Bereits auf ihrer Morgenroute hatte sie zwei Elche erlegt und Hasen und Fasane aus den Fallen gefischt und auch die zweite Tour endete nun mehr als erfolgreich.
"Du hast heute gute Arbeit geleistet." Liebevoll kraulte sie Wolfs breiten Kopf, sein sonst rabenschwarz glänzendes Fell war nach dem anstrengenden Tag von trockenem Staub und Blut durchzogen. "Lass uns noch die Beute auf den Karren laden, dann können wir von hier verschwinden."
Gemeinsam macht sie sich dran das tote Tier aus dem Dickicht auf den ausgetretenen Waldpfad zu zerren, auf dem ihre braune Stute May, vor einen Karren gespannt, auf sie wartete. Immer wieder stellte Levi fest, dass die eigentliche Arbeit bei der Jagd nicht darin bestand das Tier zu erlegen, sondern anschließend die größeren Beutetiere über den holprigen Waldboden Richtung Karren zu ziehen.
Fluchend bugsierte sie das schwere Tier auf den Wagen, tätschelte May den schweißnassen Hals, bevor sie sich auf ihren Rücken schwang, um schnellstmöglich ins Tal zu kommen.
Sie folgten dem ausgetretenen, holprigen Pfad, der sie durch die dicht gewachsenen Laubbäume führte. Der Wald war ihr so vertraut wie ihre eigenen vier Wände. Dort lag die Kastanie, die von einem Blitzschlag entzwei gebrochen worden war, unter der sie als Kind mit ihrem Bruder Ben Verstecken gespielt hatte. Und hier, auf der großen, hellen Lichtung, hatte sie ihr erstes Wildschwein erlegt, während ihr Vater- die Götter haben in selig- mit stolzgeschwellter Brust neben ihr stand. Als die Bäume lichter wurden, hielten sie sich an den schmalen Bachlauf, an dem sie oft Forellen angelte und Brombeeren pflückte, die es in Hülle und Fülle gab. Sie lenkte May bergab, durch einen Kiefernhain hindurch, der sie aus dem Vorgebirge an den Fuß des kleinen Hügels brachte, der an den südlichsten Teil ihres Tals grenzte.
Hier unten war die Luft noch schwüler und drückender als im Wald. Sie hielt May an, um ihnen eine kleine Verschnaufpause zu gönnen und einen Blick auf ihren pochenden Arm zu werfen.
Sie schob ihren linken Ärmel ein wenig nach oben und betrachtete ihren Unterarm, der seit Tagen schmerzte. Das Moos, welches sie heute Morgen auf die Schnelle gegen die Entzündung aufgetragen hatte, bröckelte aus dem verrutschten Verband und gab den Blick auf eine große, rot entzündete Winde frei, aus der ihr süßlicher Eitergeruch entgegenschlug. In der Mitte der Wunde befand sich ein rundes Plättchen, ein Chip, der ihr vor ein paar Wochen neu eingesetzt worden war, um den sich aufgedunsenes Fleisch rankte. Kopfschüttelnd betrachtete sie die weit fortgeschrittene Entzündung und versuchte die übrig gebliebenen Moosklumpen wieder gegen die Wunde zu pressen und den Verband zurecht zu rücken. Einen besseren Zeitpunkt hätte sie sich nicht aussuchen können.
Sie dachte an den Winter, der unaufhaltsam vor der Tür stand, ihren Hof, den sie gemeinsam mit ihrem Bruder Ben bewirtschaftete und die Arbeit, die vor ihr lag. Die Berge und das Tal hatten zwar schon ihr Hebstgewandt angelegt, doch die Temperaturen waren noch immer unerträglich heiß, denn der kochende Sommerwind war noch einmal zurück gekehrt. Levi wusste, dass sich das schlagartig ändern konnte. In den höheren Lagen hatte es bereits geschneit- sie hatte heute die ersten mit Schnee bedeckten Gipfel gesehen. Ben musste in den nächsten Tagen das Vieh zusammen treiben, die Zäune überprüfen und reparieren und die Stallungen für den Winter vorbereiten. Die Wintersaat war auch fällig.
Zudem hatte sie selbst noch dafür zu sorgen, dass außer den Rindern auch noch andere Tiere die Vorratskammern der Blender füllten. Jeden Tag zogen Wolf, May und sie los, um Großwild wie Rehe, Elche und Wildschweine zu erlegen und Fallen und Schlingen, mit denen sie kleinere Tiere fing, aufzustellen, zu leeren und wieder aufzustellen. Besonders, da der Winter nahte, musste sie sich ranhalten, um mindestens die doppelte Menge als üblich einzubringen. Die Blender wollten über den Winter gefüllte Speisekammern. Ihre Verletzung hatte sie in ihrem Zeitplan weit zurück geworfen, überlegte Levi besorgt. Die letzten Wochen waren, aufgrund ihrer Wunde, nicht sehr ertragreich gewesen und sie schickte sich besser an das zu ändern. Es war besser sie hielt...
Unwillkürlich zuckte sie zusammen, als Wolf, aus tiefster Kehle knurrend und mit gefletschten Zähnen, an ihr vorbei nach vorne schoss. May, durch seine Reaktion alarmiert, hob abrupt ihren Kopf und schnaubte aufgeregt durch ihre Nüstern. Da sie noch am Fuß des Hügels standen, konnte Levi unmöglich einsehen, wer oder was sich auf der anderen Seite befand. Vielleicht ein Braunbär oder ein Puma? Levi lauschte in die Wildnis und hörte näher kommendes Hufgetrappel und eine tiefe Männerstimme, die sie nur allzu gut kannte. Noch bevor sie ihn sehen konnte, wusste sie wer ihr dort entgegen kam: Abel.
Ihre Hoffnung ihn heute nicht ertragen zu müssen, wurde somit zunichte gemacht.
"Was zum Teufel machte er so weit hier draußen", murmelte sie genervt. Für einen kurzen Augenblick schloss sie die Augen und atmete tief ein und aus. Jetzt hatte sie nicht einmal mehr hier draußen Ruhe vor ihm, überlegte sie grimmig. Nicht, dass sie jemals einen unbeobachteten Augenblick für sich gehabt hätte- der Chip in ihrem Arm überwachte sie auf Schritt und Tritt, wieviel er den Blendern über sie preisgab, wusste sie nicht- aber hier draußen in den Wäldern fühlte sie wenigstens manchmal so etwas wie Freiheit und Ruhe. Doch auch das war ihr heute scheinbar nicht vergönnt. Sie bedeutet Wolf mit einem Handwinken sich ruhig zu verhalten.

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Die Chroniken der Letzten- Der Andere
RomanceLevi ist einer der letzten Menschen auf dieser Erde und muss Tag für Tag um ihr Überleben kämpfen, das ihr zusätzlich von den verhassten Blendern erschwert wird. Als diesen bei Levis Chiptransplantation ein Fehler unterläuft, kommt sie ausgerechnet...