Mächtig und unüberwindbar für diejenigen, die nicht dorthin gehörten, erstreckte sich eine gewaltige schwarze Mauer von Osten nach Westen über den kompletten Nordteil der Insel Aura. Vor dieser Mauer tat sich eine felsige, steile Schlucht auf, die die Insel auf natürliche Weise in zwei Hälften spaltete und nur mit einer Zugbrücke überquert werden konnte. Diese Barrikaden schirmten das Reich der Blender von dem Rest der Insel- dem Arbeitervolk und den Neun Tälern ab. Von dort aus kontrollierten und regierten sie gesamt Aura und obwohl sie niemals ihre schützenden Mauern verließen, schienen sie ihre Augen und Ohren überall zu haben. Noch nie in den zwanzig Jahren ihres Lebens hatte Levi- oder irgendein Arbeiter- je einen Fuß auf die andere Seite gesetzt. Dieser Abschnitt war den privilegierten Menschen vorbehalten, zu denen nur der Wächter und seine Eintreiber Zutritt hatten.
Levi hörte den reißenden Fluss in den Tiefen der Schlucht toben, in der sich in den letzten hundert Jahren, auf wundersame Weise, schwarze Alligatoren angesiedelt hatten. Dem Glauben der Blender nach, waren es heilige Tiere, die in Verbindung mit den Göttern standen. So fand zweimal im Jahr ihnen zu Ehren ein dreitägiges Opferfest statt, bei dem Arbeiter als Happen den Alligatoren vorgeworfen wurden. Bei dem Gedanken wurde es Levi jedes Mal flau im Magen. Sie hielt das Gerede von göttlichen Opfern für dummes Gefasel, das weder Hand noch Fuß hatte. Es war ihrer Meinung nach vielmehr eine Möglichkeit die Population in den Tälern zu reduzieren, Menschen zu bestrafen, um den Rest gefügig zu machen. Oft waren es die Alten, die den Blendern nichts mehr einbrachten, für sie wertlos waren und zudem eine Last für das System darstellten. Auch aufsässige Menschen, die sich der Herrschaft nicht länger beugen wollten, wurden geopfert. Das Schlimmste von Allem aber war, dass auch Kinder, die es in den Tälern nur begrenzt geben durfte, ihren Tod in der Schlucht fanden. Keiner hatte es jemals lebend wieder aus diesem Höllenabgrund herausgeschafft. Die meisten starben bereits an den steilen Klippen, gegen die sie im Fall schlugen, bevor sie von den Alligatoren unter Wasser gezogen wurden.
Ärger über diese Sippe brodelte stetig in Levis Inneren. Sie wünschte, sie könnte diesen bitteren, nagenden Zorn und den darunter verborgenen, dumpfen Schmerz ein für allemal verdrängen. Zu viel hatten die Blender ihr und den Arbeiter genommen und sie wusste, sie würden ihr noch mehr nehmen, immer mehr, bis von ihr nichts mehr übrig war. Doch derartige Gefühle würden ihr die Jahre, die ihr noch blieben auch nicht gerade erleichtern und sie würden ihr auch nicht über die nächsten Stunden hinweg helfen.Diesmal würde sie ihnen keinen Grund geben, schwor sie sich.
Sie sog den Geruch nach Gras und Pferd, den Geruch der Abenddämmerung in sich auf und straffte die Schultern. Was sie jetzt brauchte, war kühle, berechnende Selbstbeherrschung.Sie trabten nun auf das Haupthaus zu, das sich wie ein graues Schutzschild vor der Schlucht auftat. Der Zaun, der das Haupthaus sicherte, öffnete sich augenblicklich und sie fanden sich inmitten von regem Treiben wieder. Pferdekarren, vollbeladen mit frisch eingetriebener Ware, wurden von einer Horde Eintreibern entladen, geprüft und auf andere Karren umsortiert, um dann endgültig hinter die Mauer transportiert zu werden.
Sofort kam ein hagerer, alter Mann mit weißem schütterem Haar auf sie zugeeilt. „Zu Diensten, Sir."
"Gib den Gäulen was zu saufen, aber sei gefälligst sparsam mit dem Wasser. Nur so viel, dass sie nicht zusammen klappen. Pack die Ware ins Lager und halt mir diesen stinkenden Köter vom Leib", wies Abel ihn an und deutete dabei auf Wolf.
"Er gehorcht anderen nicht, Sir", mischte sich Levi ein.
"Wage es ja nicht noch einmal dich unaufgefordert auf meinem Hof in etwas einzumischen", fauchte Abel sie an.
"Ich meinte doch..."
Er packt sie grob am Arm „Dann krieg deinen dämlichen Köter besser dazu, dass er sich hier nicht von der Stelle bewegt. Sonst hacke ich ihm den Kopf ab und werfe ihn anschließend den Alligatoren vor", zischte er und packte noch etwas fester zu, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
Altvertrauter, bitterer Zorn begann sich wieder in Levi zu bewegen, denn sie wusste nur zu gut wozu er fähig war. „Wenn du ihn umbringst, wird er dir kein Wild mehr servieren können."
"Dann verklickerst du ihm lieber, dass es für ihn und allen anderen besser wäre, sich nicht von der Stell zu rühren."
Levi bedeutete Wolf mit einer Handbewegung auf der Stelle zu bleiben, ein Signal, dass sie täglich auf der Jagd gebrauchten.
"War es das?"
"Ja, Sir", erwiderte sie und wünschte sich, er würde ihren ohnehin schon schmerzenden Arm endlich loslassen.
"Beweg dich Richtung Haupthaus, aber schnell." Er zerrte sie vorwärts, weg von dem Trubel, über den staubigen Vorhof, vorbei an dem Lagerhaus, den Stallungen mit den klapprigen Pferden und den heruntergekommenen Wellblechhütten der Eintreiber. Er schubste sie die Stufen zum Haupthaus hinauf, aus dem ihnen lautes Geschrei entgegen schallte.
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Die Chroniken der Letzten- Der Andere
RomanceLevi ist einer der letzten Menschen auf dieser Erde und muss Tag für Tag um ihr Überleben kämpfen, das ihr zusätzlich von den verhassten Blendern erschwert wird. Als diesen bei Levis Chiptransplantation ein Fehler unterläuft, kommt sie ausgerechnet...