FÜNF

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Fünf Tage. Fünf Nächte. So lange war es jetzt schon her. Es verging keine Sekunde, in der ich es nicht bereute, abgehauen zu sein. Es war dumm, doch jetzt musste ich zu meiner Entscheidung stehen. Wäre ich geblieben, würde ich meine Familie gefährden. Ich konnte einfach nicht zulassen, dass ihnen etwas passiert. Gleich wegzulaufen war keineswegs die beste Lösung. Sicherlich hätte man die Angelegenheit anders regeln können, aber ich wusste einfach nicht wie. Wäre ich nicht so dumm und naiv gewesen, würde ich jetzt nicht bei minus fünf Grad unter irgendeiner Brücke am Rande Berlins sitzen. Egal, da musste ich jetzt durch.

Mit meinen letzten 15 Euro machte ich mich auf den Weg in den nächsten Supermarkt. Vorsichtig lief ich durch die Gänge und suchte die Getränke, doch dann sah ich ihn. Nein, das konnte nicht sein. Er hielt sich doch normalerweise nur am ganz anderen Ende der Stadt auf. Panisch rannte ich davon. Schon wieder. Hoffentlich hatte er mich bei meiner Fluchtaktion nicht noch gesehen.

Ich rannte und rannte und wusste wieder nicht wohin. Jedenfalls musste ich weg hier. Raus aus Berlin. Fünf Minuten lief ich planlos davon, bis ich am Südbahnhof ankam. Hektisch suchte ich einen Ticketautomaten auf. Wohin? So weit weg wie nur möglich. Da meine Möglichkeiten jedoch nur begrenzt waren, musste Hamburg reichen. Samt Rucksack und Ticket machte ich mich auf den Weg zu Gleis Fünf. Mein Blick fiel auf die große Anzeigetafel. Noch 25 Minuten, dann würde ich für immer aus meiner Heimat flüchten. Ich würde mein ganzes bisheriges Leben hinter mir lassen, doch ich konnte einfach nicht hierbleiben. Es war zu gefährlich.

Schließlich fuhr der Zug vor und ich stürmte nur so hinein. Ich setzte mich auf den nächstbesten Platz und hoffte darauf, dass sich die Türen schließen. Fünf Minuten dauerte es, bis sich der ICE in Bewegung setzte. Endlich. Nun war ich in Sicherheit. Erleichtert atmete ich aus. Das war mein Neuanfang.
Fünf Stunden später hielt der Zug an der Endstation. Nervös stand ich von meinem Platz auf und machte mich auf den Weg zur Tür.

Was würde mich hier erwarten? Ich war in der Hoffnung hergekommen, dass nun alles besser wird. Aber was wäre, wenn nichts besser werden würde? Vielleicht finden sie mich doch. Was war, wenn sie meiner Familie doch etwas antun würden?

Kurzerhand drängte ich meine Ängste beiseite und setzte einen Fuß aus dem Zug. Ohne zu wissen wohin, lief ich einfach drauf los. Es war mittlerweile schon spät geworden und ich wollte nur einen Platz zum Schlafen finden. Etwa fünf Minuten später befand ich mich in einem Park. Ich blickte mich um und sah einen Unterstand oder eher gesagt einen überdachten Weg. Für diese Nacht würde es reichen. Als ich näher kam, sah ich fünf unterschiedliche Personen, die es sich dort bereits gemütlich gemacht hatten. Unsicher lief ich auf sie zu. Ohne ein Wort setzte ich mich in eine Ecke, die ein wenig entfernt von den anderen war. Sie sahen mich fragend an. Einer übernahm das Wort und fragte mich nach meinem Namen und wieso ich hier war. Schüchtern antwortete ich und sie nickten verständlich. Wir unterhielten uns alle miteinander und eine andere der Personen bot mir etwas zu trinken und essen an, was ich natürlich dankend annahm, da ich den ganzen Tag noch nichts zu mir genommen hatte. Geld um mir etwas zu kaufen, hatte ich auch nicht mehr viel übrig. Mit fünf Euro kommt man eben nicht weit. Es wurde immer später. Ich musste zugeben, dass es echt gut tat, mal wieder mit anderen Menschen zu reden.

Die erste der fünf Personen hieß Mark und war erst 15. Seine Eltern waren alkoholabhängig und stritten sich oft, weshalb er dann ins Waisenhaus kam. Dort wurde er von den anderen Kindern gehänselt. Er hielt es einfach nicht mehr aus und ist vor etwa fünf Monaten abgehauen. Trotzdem wirkte er keinesfalls unglücklich auf mich. Außerdem hatte er erzählt, dass es ihm jetzt viel besser ging und es für ihn wirklich kein Problem war mit wenig Geld auszukommen.

Nachdem Mark seine Erzählung beendet hatte, fasste der Nächste oder eher gesagt die Nächste den Mut, ihre Geschichte zu erzählen. Tamara war so alt wie ich, lebte aber schon seit zwei Jahren auf der Straße. Ihr Grund war ähnlich. Als sie noch bei ihren Eltern wohnte, stritt sie sich ununterbrochen mit ihnen. Sie akzeptierten ihre Entscheidungen einfach nicht und an jenem Tag wurde ihr Vater sogar handgreiflich. Das war der Tag, an dem sie ihre Sachen packte und weglief. Im Gegensatz zu Mark wirkte Tamara leider nicht so glücklich. Sie erzählte uns, dass sie ihre Schwester vermisst. Manchmal besucht sie Tamara heimlich und hat ihr versprochen, dass sie, wenn sie alt genug ist und eine eigene Wohnung hat, Tamara sofort bei ihr einziehen kann.

Steffen war mit 35 der Älteste und wohnte schon sein halbes Leben auf der Straße. Eigentlich hatte er die besten Voraussetzungen für ein glückliches Leben. Er stammte aus einer wohlhabenden Familie. Doch als er mit 15 seine Eltern und Geschwister bei einem Autounfall verlor, fing er an zu trinken. Er war als Einziger nicht mit in dem Auto, da er mit einem Freund zusammen für die Schule lernte. Nur fünf Wochen später starb seine Oma und er hatte niemanden mehr, woraufhin er ins Heim musste. Der Verlust seiner Familie ließ ihn immer öfter zur Flasche greifen und er hatte es nicht mehr unter Kontrolle. Mit 18 mietete er sich eine Wohnung, welche ihm jedoch ein dreiviertel Jahr später gekündigt wurde, da er sein ganzes Vermögen für Alkohol und andere Drogen ausgegeben hatte. Seitdem zieht er von Stadt zu Stadt. Stolz erzählte er uns, dass er seine Sucht überwunden hat. Leider schaffte er es trotzdem nicht, sein Leben in den Griff zu bekommen. Sein Traum war es immer als Banker zu arbeiten. Er tat mir am meisten Leid, da ich das Funkeln in seinen Augen sehen konnte, als er von seiner Familie sprach.

Ich vermisste meine Familie auch schrecklich, aber es war das Beste, sie nicht mit in diese Sache reinzuziehen. Ihr Leben ist mir wichtiger als meins und ich könnte es mir nie verzeihen, wenn ihnen wegen mir etwas zustößt.

Ayleen und Tim sind ein Paar und haben sich genau hier in ihrer ersten Nacht im Park kennengelernt. Ihre Geschichten waren ähnlich wie die der Anderen und trotzdem waren alle individuell und traurig. Sie alle kamen ganz gut mit ihrer Situation zurecht, was mir Mut machte, auch wenn meine Geschichte viel schlimmer war.

Ich habe mir in den letzten Tagen unzählige Gedanken darüber gemacht, ob mein Leben überhaupt noch Sinn macht. Ob es sich überhaupt noch lohnt, war die Frage, die sich ununterbrochen in meinem Kopf breit machte. Schließlich bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass ich nicht einfach so aufgeben kann. Ich würde es schaffen und irgendwann würde genügend Zeit vergangen sein. Es wäre alles vergessen und ich könnte wieder zurück. Zurück nach Hause. Zurück zu meiner geliebten Familie.

Als die fünf bereits schliefen, lag ich noch wach in meinem Schlafsack und konnte kein Auge zumachen. Die Dunkelheit und die Geräusche der Natur machten mir Angst und ließen mich verunsichern.

Am nächsten Morgen wurde ich durch warme Sonnenstrahlen und die Kälte des Windes in meinem Gesicht geweckt. Die Anderen waren bereits wach und schon verschwunden. Als ich mich umschaute, entdeckte ich einen Zettel auf dem stand, dass sie mir etwas zu Frühstücken mitbringen würden. Ich lächelte leicht und stand auf.

Plötzlich spürte ich, wie etwas an meinen Rücken gedrückt wurde. Mein Puls schoss schlagartig in die Höhe und mein Herz pochte wie verrückt. Schwer atmend und mit leicht erhobenen Händen drehte ich mich um und sah ihn. Nein, das konnte nicht wahr sein. Er konnte mich unmöglich gefunden haben. Mein Blick blieb an seinen eisblauen Augen hängen. Sie ließen mich fünftausend verschiedene Dinge fühlen. Am meisten lösten sie panische Angst in mir aus. Schließlich schaffte ich es, mich von ihnen loszureißen und ich sah vorsichtig nach unten.

Er sagte etwas, doch ich konnte nichts verstehen. Es war, als wäre alles um mich herum nicht real und nichts von alldem würde gerade passieren. Ich konnte mich nicht bewegen, nichts hören und hatte keine Gedanken zu alledem. Auf einmal verspürte ich keine Angst mehr.

Das Nächste, was ich wieder wahrnehmen konnte, war der laute Knall und das dumpfe Schallen, welches durch den Schuss ausgelöst wurde. Dann überkamen mich unbeschreibliche Schmerzen und meine Beine konnten mich nicht mehr halten. Ich fiel zu Boden. Eiseskälte breitete sich in meinem Körper aus. Mit aller Kraft versuchte ich meine Augen offen zu halten, doch es gelang mir nicht. Sie fielen zu und mein ganzes Leben zog noch einmal an mir vorbei.

Ob sie meiner Familie etwas angetan haben? War das das Ende? Das durfte nicht sein. Ich konnte mich gar nicht von ihnen verabschieden. Sicherlich machen sie sich schreckliche Sorgen um mich.

Das waren meine letzten fünf Sekunden. Meine letztenfünf Gedanken, die ich fassen konnte. Meine letzten fünf Atemzüge, bevor meinHerz aufhörte zu schlagen.   

Auf Der FluchtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt