~ Für Lina ~
Ein tiefes Grollen durchbrach die Musik meines Handys. Was...? Wie vom Blitz gerührt, blieb ich abrupt stehen. Vorsichtig nahm ich einen Kopfhörer aus dem Ohr. Hatte ich mich gerade verhört? Die grauen Wolken über meinem Kopf schienen sich zu einem noch düsteren Geflecht zu verdichten. Der blaue Himmel war plötzlich überzogen mit dunklen Gewitterwolken, die sich in großer Geschwindigkeit auf mich zu bewegten. Scheiße! Ein Leuchten am Himmel bestätigte meine schlimmsten Vermutungen. Ich hatte das Wetter vollkommen falsch eingeschätzt. Das kommt davon, dass du immer spazieren gehen musst. Wie eine alte Oma.
Ich verfluchte mich selbst. Warum hatte ich nicht daheim bleiben können? Nein, stattdessen hatte ich, trotz einzelner grauer Wolken, mein Zuhause verlassen um den Kopf frei zu bekommen. Frei von all den erdrückenden Gedanken des Alltags. Und nun stand ich hier. Erstarrt, weil mich der plötzliche Wetterumschwung aus der Fassung brachte. Ratlos, weil das Dorf in weiter Ferne lag und lediglich weite Felder mein Blickfeld einnahmen. Im selben Moment begann mein Handy zu vibrieren. „DIE BESTE MUTTER" stand in Großbuchstaben auf dem Display.
„Ja?"
„Emilie! Ein starkes Gewitter zieht von Angert zu uns rüber. Kannst du die Wäsche abnehmen? Dein Opa und ich sind gerade noch auf dem Friedhof und kommen gleich zurück", die ruhige Stimme meiner Mutter drang durch den linken Kopfhörer zu mir.
„Ähm, ich würde dir wirklich gern helfen, aber... Ich habe da ein kleines Problem."
„Sag mir bitte nicht, dass du bei dem Wetter rausgegangen bist!"
„Ja... Also", stammelte ich unsicher.
„WO BIST DU?"
Ich zuckte zusammen. „Vielleicht zwei Kilometer von Zuhause entfernt. Auf der Landstraße nach.... Angert", den Rest des Satzes verschluckte ich beinah.
Mit dem Handy in der Hand und dem Gewitter im Rücken wurde es mir endgültig bewusst, dass ich tief in der Patsche steckte. Ich begann zurück zu laufen, während ich weiterhin mit meiner Mutter am Telefon sprach. Ich hörte ihr genervtes Aufstöhnen. Sie schien mit meinem Großvater zu sprechen, bevor sie sich wieder an mich richtete. „Ok, ich laufe schnell nach Hause und fahre mit dem Auto zu dir. Komm mir so weit wie möglich entgegen und Emilie, nächstes Mal suchst du dir gefälligst ein passenderes Wetter für deine kilometerweiten Spaziergänge!" Sie legte auf, ich ließ das Handy zurück in die Hosentasche gleiten und folgte ihren Anweisungen, indem ich schneller lief.
Ein weiteres Grollen zog über die flache Landschaft hinweg, der Wind wurde stärker und ich begann zu frösteln. Kleinere Bäume und Büsche, welche die Straße von den Feldern abgrenzten, bogen sich im Wind. Nach zwei heißen Wochen hatte ich die Kühle des heutigen Tages mit offenen Armen willkommen geheißen. Ich hasste Hitze. Man konnte sich kaum konzentrieren, zerfloss bei jeder unbedachten Bewegung und war stets auf der Suche nach einem schattigen Plätzchen. Ich hätte wissen sollen, dass auf eine solche Hitze kein kleiner Regenschauer folgte. Während ich weiter lief, holten mich die großen Wolkentürme allmählich ein. Oh, großer Wettergott! Lass deinen Frust an der Menschheit nicht an mir aus! Ich bin doch nur eine faule Schülerin, die leider den Tick entwickelt hat, viel zu lange Spaziergänge zu unternehmen. Seit wann ist das eine Straftat?
Regen setzte ein und bedeckte meine dünne Stoffjacke. Nasse Haarsträhnen hatten sich aus meinem Zopf gelöst und störten mein Blickfeld. Ich hatte bereits einige Meter hinter mich gebracht, als ein helles Leuchten den Himmel erhellte. Mein Atem wurde unruhiger, je höher mein Adenalinspiegel stieg. Ausgerechnet der größte Gegner meines bisherigen Lebens meldete sich nun zurück. Ich hegte eine unfassbare Abneigung gegenüber jeglichem Ausdauersport, insbesondere gegenüber dem Joggen. Ich HASSTE Ausdauerlauf, wie es mein „geliebter" Sportlehrer nannte. Es war nicht lustig, man konnte keine schutzlosen Klassenkameraden mit Bällen abwerfen und das Erreichen des Ziels war definitiv nicht befriedigend. Menschen, die sich diesem Horror freiwillig aussetzten, waren verrückt. Aber jetzt wäre es trotzdem von Vorteil, wenn ich etwas Ausdauer besitzen würde.
Vor meinem inneren Auge baute sich mein Sportlehrer vor mir auf. Ich konnte mir gut vorstellen, was er mir nun vorwerfen würde. „Hättest du etwas mehr geübt, müsste ich dir keine 5 geben. Vielleicht hättest du sogar eine 3 erreichen können. UND DU WÄRST BEREITS LÄNGST ZU HAUSE, DU LAHME SCHNECKE." Ok, ok. Letzteres hörte sich mehr nach meiner aufgebrachten Mutter an. Mein Sportlehrer mochte meine Ausdauerlaufverweigerung nicht akzeptieren können. Zu einer Furie würde er dadurch jedoch nicht mutieren. Anders als die Frau, die im Moment mein einziger Lichtblick zu sein schien.
Als meine Kraft allmählich nachließ, hatte ich bereits einige Meter hinter mich gebracht. Erschöpft blieb ich stehen und versuchte meinen Atem wieder zu finden. Mein Herz pochte schnell in der Brust. Der Regen durchdrang meine Kleidung. Einzelne Wassertropfen liefen meine Kleidung hinab, während mir der Wind ins Gesicht peitschte. Ich konnte mich an den letzten Blitzeinschlag oder das letzte Donnergrollen nicht mehr erinnern. Hatte es sich allmählich verzogen? Vielleicht genügte es dem "großen Wettergott", dass ich nun wie ein begossener Pudel aussah und eine heftige Standpauke meiner Mutter erwartete. Ein Licht tauchte in einigen Metern Entfernung auf.
Endlich.
Ich raffte mich zusammen und nahm erneut die Beine in die Hand. Blöder Regen, blödes Gewitter. Wegen euch wird mich meine Mutter lynchen.
Trotz dieser Befürchtung legte sich ein Lächeln auf meine Lippen. Ich konnte mich glücklich schätzen, eine solche Mutter zu haben. Sie war stets für mich da und unterstützte mich in allen Bereichen. Ich hatte sie unfassbar lieb.
Je näher das Auto kam, desto glücklicher wurde ich. Ich wollte endlich ins Trockene kommen und diesen ekelhaften Wind loswerden. Doch soweit kam es zunächst nicht.
Plötzlich stellten sich meine Nackenhaare auf. Im nächsten Moment war es bereits geschehen. Ein Knistern lag in der Luft, Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen und kurz darauf durchbrach ein monströser Knall die Umgebung. Unweit von mir, einige Meter zu meiner Rechten, war ein Blitz eingeschlagen. Angst ergriff mich. Schockiert blieb ich für einen kurzen Moment stehen. In meinen Ohren begannen Glocken zu läuten, welche meinen Kopf zu unfassbaren Schmerzen trieb. Instinktiv schloss ich die Augen und legte meine Hände auf die Ohren.
„EMILIE!" Mein Name! Er drang dumpf an mich heran. Ich wusste, dass ich hier verschwinden musste, doch keiner meiner Muskeln wagte sich zu bewegen. Kaum hatte sich der Blitz entladen, zeigte sich der Donner mit all seiner Macht. Fasziniert und verängstigt zugleich, bemerkte ich, wie sich die Hand meiner Mutter an meinen Arm klammerte. Sie befreite mich aus meiner Starre und zog mich von dem düsteren Schauspiel fort. Das Auto war hell erleuchtet. Die Scheinwerfer zeigten uns den Weg. Meine Mutter führte mich vorsorglich zum Beifahrersitz. Sie achtete darauf, dass ich sicher saß, als sie meine Tür schloss und zurück zur Fahrerseite rannte.
Kaum hatte sich meine Mutter ins sichere Auto gerettet, überzogen weitere Lichtblitze den Himmel. Noch nie hatte ich einen solch heftigen Wetterumbruch aus nächster Nähe gesehen. Ich wandte mich wieder meiner Mutter zu, die mich besorgt ansah. Ich lächelte zögerlich, griff nach ihrer Hand und drückte diese vorsichtig. Ich war froh, dass sie endlich hier war.
„....Ge...., Em..." Verwirrt starrte ich sie an.
„E... al... ung" Irritiert schüttelte ich meinen Kopf. Die Wortfetzen, welche meine Mutter von sich gab, ergaben keinen Sinn.
Sorgenfalten bildeten sich auf ihrer Stirn. Ein weiteres Mal bewegten sich ihre Lippen, doch ich ihre Worte drangen nicht zu mir durch. Mein Kopf begann zu dröhnen. Ein dumpfes Rauschen umhüllte mich und wurde von einem schrillen Ton durchzogen. Ängstlich legte ich meine Hände an den Kopf. „Ma..." Mein Hals schnürte sich zu. Ich begann zu zittern. Verdammt! Tränen bildeten sich in meinen Augen, als ich meine schreckliche Erkenntnis aussprach.
„Ich... ich hö-höre nichts mehr."
Vielen Dank, dass du das erste Kapitel meines neusten Buchs gelesen hast.
Ich würde mich über Kritik/ Verbesserungsvorschläge sehr freuen.
kleines Mariechen
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Das Herbstmädchen
Teen FictionNach einem Sommer voller Schmerzen und Einsamkeit, wollte ich nur eines: Mein Leben zurück. Ich wollte zur Musik tanzen, mein letztes Schuljahr genießen und... meinen Platz in der Welt finden. Der Herbst empfing mich mit offenen Armen. Bunte Blätt...