Kapitel 2

19 0 0
                                    


Auf der Autofahrt herrschte Schweigen. Das Geräusch des laufenden Motors, dass leise prasseln des Regen auf dem Autodach und das fast stumme Summen des Radios erfüllten das kleine Auto meiner Mutter mit Klang. Es war unangenehm. Zu Beginn der Fahrt fragte ich, wohin wir fahren, was das ganze überhaupt soll und ein paar Mal, wieso sie nicht antwortet, aber ich ließ es einfach gut sein.

Während der gesamten Fahrt ruhte mein Blick entweder auf der integrierten Uhr des Radios, oder auf vorbeiziehenden Ortsschildern. Ein paar der Orte kannte ich, andere nicht. Wir fuhren zwei Stunden und sechsunddreißig Minuten, bis das Auto hielt. An einer Tankstelle. Prima. Wollte sie mich hier aussetzen? Meine Mutter stieg aus und betrat das kleine Gebäude, in dem sämtliche, überteuerte Lebensmittel angeboten wurden. Sie tankte nicht. Der Mann hinter dem Tresen gestikulierte mit seinen Armen, als wollte er ihr möglichst anschaulich einen Weg erklären. Aha, da will die Werte Dame mich irgendwo hinbringen und weiß nicht Mal genau, wohin? Ich verdrehte meine Augen.

Nach weiteren neunundvierzig Minuten hielt sie erneut. Ich hoffte, sie würde nur ein weiteres Mal nach dem Weg fragen. Es war ein riesiges, Krankenhausähnliches Anwesen. Sie befahl mir trocken, auszusteigen. Ich überhäufte sie mit Fragen, wieso, was soll ich hier, warum, waren die Hauptfragen.

Wie schon zuvor ignorierte sie mich. Trotzig stieg ich aus dem Auto, verschränkte meine Arme vor der Brust und sah mich um. Verschiedene Schilder zeigten in diverse Richtungen und besagten, was sich wo befindet. Besonders hilfreich waren sie allerdings nicht, keines von ihnen verriet mir, wo wir uns befanden.

"Komm" ich zuckte kurz, überrascht von dem Koffer der neben mir aus dem Gleichgewicht geriet und mit einem ranzigen Laut über den Kies schlitterte. Ich befand meine Mühe, Fragen zu stellen, irgendwann unnötig und war dann einfach still. Schwerfällig rollte der Koffer hinter mir her. Ich konnte ein weiteres Schild entdecken, es zeigte auf eine Wiese. "Klinikgarten", stand drauf. Was? Klinik? Ein weiteres Mal musterte ich das Gebäude. Jetzt, wo ich wusste, dass es eine Klinik ist, sah es auch danach aus.

Was sollte ich hier? Ich hatte keine Krankheit, weder Körperlich noch psychisch. Was zur Hölle?! Ich blieb stehen. Schaute meine Mutter an, die sich nach mir umgedreht hatte. "Worauf wartest du?", ihr Ton war spöttisch. Wahrscheinlich wäre eine Klinik, vollgestopft mit Irren, immer noch besser als das Haus meiner Mutter. Besser Bekannt als die Hölle. Ich schluckte schwer, setzte meinen Koffer wieder in Bewegung und lief vor. Schnurstracks ging auf den großen, ziemlich freundlich gestalteten Eingang zu. Davor stockte ich kurz, schaute mich um. Nicht, weil ich nicht reingehen wollte. Ich überlegte. Kürzlich hatte ich Reportagen über Englands bekannteste Psychopathen gesehen. Das Gebäude kam mir mit jedem Schritt, den ich hinter mich brachte, Vertrauter vor. Ich drehte mich zu meiner Mutter um. Diese ging wortlos an mir vorbei, betrat die Klinik und suchte nach einer Anlaufstelle für Neuankömmlinge.

Mittlerweile bewohne ich seit einer Woche ein Einbettzimmer in 'Haus 1'. Haus 1 bietet Platz für 16 Patienten. 16 Menschen, die völlig unterschiedlich scheinen, aber mit dem gleichen Problem hier eingeliefert wurden. 16 Individuen, welche in die Kategorie 'Schwer Erziehbar' eingestuft wurden. Mir war bei meiner Ankunft klar, dass das hier ein Irrenhaus sein muss, aber ich wusste nicht, dass man als 'Schwer Erziehbar' in die Klapse muss.

Laut den Schilderungen meiner Mutter bin ich ein Monster, hätte kein Benehmen, wäre eine chronische Lügnerin, und auf einem emotionalen Level sadistisch. Sie erklärte der Seelenklempnerin, dass ich es genießen würde, meiner Mutter emotionale Schmerzen zuzufügen. Sie berichtete von Problemen in der Schule und Bekanntenkreis und, und, und...

Meiner Meinung nach, wäre sie ein Fall für die Psychiatrie, so, wie sie sich aufgeführt hat. Sie ist völlig hysterisch geworden und hat angefangen zu heulen.

Während meine Mutter einer völlig Fremden also eine dramatisierte Version meines Lebens anvertraute, saß ich auf einem ungemütlichen Sessel nehmen ihr und kaute Kaugummi. Ich widersprach nicht, grundsätzlich waren ihre Erzählungen nicht frei erfunden. Sie hatte lediglich das Talent dafür, aus einer Mücke eine Elefantenfamilie zu machen, lügte aber nicht.

In der letzten Woche wurde mir Zeit gewährt, um die verschiedenen Gebäude zu erkunden, Freundschaften zu schließen, mein Zimmer mit Persönlichen Materialien wohnlich zu gestalten und außerdem hatte ich die Möglichkeit, die Kurse der Klinikeigenen Schule zu besuchen.

Nichts davon habe ich getan. Ich habe nichtmal dran gedacht, mit einem der Irren hier zu sprechen. Die Betreuer scheinen ganz in Ordnung zu sein, mir wurden zwei persönliche zugeteilt. Mia weckt mich am Morgen, sie begleitet mich zum Frühstück. Ich sitze übrigens allein an einem Tisch. In dem großen Raum, in dem die Patienten gemeinsam ihre Mahlzeiten zu sich nehmen, ist es meistens still. An einigen Gruppentischen eskalieren Situationen regelmäßig, wer setzt einen homophoben, mit einer lesbischen Magersüchtigen und einem Jungen mit Tourette an einen Tisch? Es ist die Schuld der Betreuer, nicht der Patienten.

Worauf ich hinauswollte war eigentlich, dass ich mich allein ganz wohl fühle. Ich habe schließlich nicht vor, besonders viel Zeit in dieser Anstalt zu verbringen, zumal das nicht der richtige Ort für mich ist. Ich bin weder psychisch krank, noch bin ich schwer Erziehbar. Meine Mutter ist einfach mit ihrer Arbeit und ihrer Scheidung, ihres bisher vierten Mannes, überfordert.

Samantha besucht mich am Abend, sorgt dafür, dass ich um 23 Uhr nicht mehr aus Trotz wach bin und unterhält sich mit mir. Ich nenne sie Sam. Sam ist 21 Jahre alt und nicht so streng wie Mia.

Am Donnerstag hat Sam mir den Klinikgarten gezeigt, alleine durfte ich bisher noch nicht raus. Heute ist Sonntag und morgen habe ich das erste Gespräch mit meiner ganz persönlichen Seelenheilerin. 

RememberWhere stories live. Discover now