Schattentänzer

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Um mich herum sehe ich nur Nebel, es ist kalt und nass, ich will nach Hause. Doch wo ist Zuhause? Was bedeutet es? Seit Tagen irre ich umher, alleine, ohne Orientierung. Manchmal erschrecke ich vor meiner eigenen Stimme, wenn ich huste, weil selbst dies mir inzwischen so fremd geworden ist. Tage vergehen. Ich spüre ein beißendes Brennen und Kneifen in meinem Bauch. Seit ich meinen Bruder vor wenigen Tagen verloren hatte, als wir auf der Flucht vor den bösen Männern waren, hatte ich nichts mehr gegessen. Ich mied die großen Straßen, die dieses fremde Land hier durchzogen, und auch vor den Weißen grauste es mir. Die einen rannten bei meinem Anblick schreiend weg, gestern warf mir sogar ein Mann einen Holzscheitel hinterher. Ich merkte, wie mir die Kraft ausging. Meine Beine und Arme waren dünn wie Äste. Mein Gesicht knochig. Ich will nur nach Hause, zu Tarek, meinem Bruder. Ob er noch lebte? Ob ich ihn je wiederfinden würde? Er machte diesen Höllentrip aushaltbar, die Qualen, die wir überstehen mussten, bis wir in diesem fremden Land angekommen waren. Er hatte mich in den Arm genommen, als sie unsere Eltern erschossen hatten, hatte mich weggetragen und beschützt, mir versprochen, hier werde alles besser sein, es brauche nur seine Zeit... 'Gib die Hoffnung nie auf', hörte ich seine Stimme in meinem Kopf sagen. Ich konnte mich nicht länger halten. Kraftlos brach ich zusammen, wenige Meter neben einer dieser großen Straßen. Mein Bauch schmerzte. Mein Kopf dröhnte. Jetzt würde ich wohl sterben, dachte ich. Wieder hörte ich Tareks Stimme. Ich verstand nichts, die Worte verschwammen. Kurz sah ich Tareks Gesicht vor mir, er streckte die Arme nach mir aus und sagte etwas, aber dann wurde es schwarz um mich.

Ich kam in einem kleinen Raum zu mir. An den Wänden stapelten sich Kisten, Kleidung und andere Dinge. Nach und nach bemerkte ich die fremden Menschen, die um mich herumstanden und mich erwartungsvoll anstarrten. Auch Tarek war dabei. Er war es wirklich. Zum Glück. Ich konnte vor Freude und Erleichterung nichts sagen. Auch die schrecklichen Bauchschmerzen waren für den Moment vergessen. Der Höllentrip hatte ein Ende. Wir waren sicher, hatten ein Dach über dem Kopf, etwas zu Essen und mussten nicht mehr frieren. Später, am Abend, zeigte mir ein kleines Mädchen ein Schattenspiel mit ihren Puppen. Sie sahen mitgenommen aus, einigen fehlten Ärmchen oder die Kleider. Aber das schien sie nicht zu stören, denn ihren Schatten konnte man es nicht ansehen, welche Mängel sie hatten. Einen Moment vergaß ich all die Strapazen, die wir in den letzten Wochen hinter uns gebracht hatten, den Krieg, die Verfolgung, den Tod meiner Eltern, die Flucht über das Meer, und fühlte mich wie einer ihrer Schattentänzer. Frei, geborgen und sorglos. Wie ein Schattentänzer.

SchattentänzerWhere stories live. Discover now